Robert Scherer:
Der philosophische Weg Maurice Blondels : Zur
hundersten Wiederkehr seines Geburtstags.
In: Philosophisches Jahrbuch 69 (1962), S. 221-254

Der philosophische Weg Maurice Blondels

Zur hundertsten Wiederkehr seines Geburtstags

Von ROBERT SCHERER

Im vergangenen Jahre feierte die französische philosophische Welt am 2. November den 100. Geburtstag Maurice Blondels. Dieser Philosoph, dessen Werk sehr bald den gegensätzlichsten Mißverständnissen ausgesetzt wurde, läßt sich schwer innerhalb der bestehenden philosophischen Richtungen einordnen. Er beginnt heute wieder mehr die Aufmerksamkeit der geistigen Welt auf sich zu lenken, nachdem durch die Veröffentlichung seiner Briefe1 und der vielfach unzugänglichen frühen Dokumente seines Schaffens2 ein deutlicheres Bild dessen vermittelt wird, was er in seinen beiden entscheidenden Frühwerken L'Action3 und der Lettre gewollt hat. Das philosophische Anliegen Blondels blieb lange Zeit verdeckt durch eine kaum mehr übersehbare Polemik, die ihn als Philosophen in ein ganz falsches Licht stellte. In den Werken der neueren Geschichte der Philosophie wurde er zumeist als religiöser Pragmatist und Modernist4, als Religionsphilosoph oder pragmatischer5 Logiker interpretiert; es hat auch nicht an Interpreten gefehlt, die ihn als Anhänger Bergsons bezeichneten, während er in Wirklichkeit seine eigene philosophische Auffassung immer gegen die von Bergson abgehoben hat, wenn auch lebensphilosophische Anklänge bei Blondel nicht zu leugnen sind.

Die neueren Untersuchungen über Blondel6 haben inzwischen die Haltlosigkeit solcher Interpretationen erwiesen. Gleichwohl muß man sich fragen, wie ein so weitgehendes Mißverständnis seiner Zeitgenossen zu deuten ist? Denn selbst wenn dieser negativen Bilanz schließlich ein hochbedeutsamer Einfluß

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Blondels auf die Erneuerung der französischen Philosophie und katholischen Theologie gegenübersteht, so darf nicht übersehen werden, daß dieser positive Prozeß seines Einflusses nur von einigen wenigen getragen wurde. Der Hauptgrund für dieses so allseitige Mißverstehen dürfte in einem Problem der Sprache liegen, das selber philosophischer Natur ist. Blondel selbst hat über die Schwierigkeiten berichtet, die er bei der Einreichung seiner These über die Action gehabt hatte. Dieses Wort gab es in keinem der damaligen philosophischen Wörterbücher. Man konnte sich eine Philosophie der Action überhaupt nicht vorstellen, höchstens eine über die Idee der Action.

War schon die Sache, um die es in der Action ging, den Zeitgenossen dunkel, so war es für den Verfasser nicht leicht, sein Anliegen gegenüber der damals mehr oder weniger rationalistischen, positivistischen und idealistischen Philosophie überzeugend auseinanderzulegen. Uns Heutigen ist das Verstehen Blondels leichter gemacht, nachdem durch die Hegelforschung, die Phänomenologie, die Existenzphilosophie und nicht zuletzt durch Heideggers Denkweg das Kernanliegen Blondels uns verständlicher geworden ist.

Was war nun das Kernanliegen Blondels? Nach Henri Bouillard, dem wir in dieser Darstellung weithin verpflichtet sind, hat Blondel sein Leben lang um einen philosophischen Denkweg gerungen, der bei aller Unabhängigkeit und Selbständigkeit sich spontan von innen her dem christlichen Glauben öffnete7. Angesichts der laizistischen Bewegung seiner Zeit suchte Blondel über die damals übliche Apologetik hinaus nach einem philosophischen Weg, der in der logischen Zwangsläufigkeit seiner Denkbewegung zwar nicht den christlichen Glauben selbst aber doch die offene Frage danach in Gestalt einer religiösen Entscheidung auslösen sollte.

I

Überblick über das Werk Blondels

Ein kurzer Überblick über sein Werk soll der Verdeutlichung dieses Anliegens dienen. Blondel, der einer sehr alten burgundischen Familie in Dijon entstammt und einer an Künstlern und Denkern überaus reichen französischen Generation angehört, setzte die Jury der Sorbonne durch seine später so berühmt gewordene These "L'Action" in arge Verlegenheit, einmal wegen ihrer Methode, dann wegen ihrer Schlußfolgerungen, wenngleich ihre wissenschaftliche Sauberkeit und Schlüssigkeit anerkannt werden mußte. Eine zweite lateinische These über das Vinculum substantiale8 bei Leibniz enthüllt den Ausgangspunkt im Denken Blondels, denn in eben jenem vinculum substantiale, das die konkrete Einheit eines jeglichen Seienden konstituiert, indem es dessen Verbundenheit mit allen Anderen gewährleistet, suchte er das, was er als Action bezeichnete, zu fassen. "L'Action, essai d'une critique de la vie et d'une science

[Der philosophische Weg Maurice Blondels - Seite 223] de la pratique" erschien 1893 und war seit 1895 vergriffen. Das Werk ist in dieser Gestalt zu Lebzeiten Blondels nie mehr wieder aufgelegt worden, obwohl der Verfasser damals schon wichtige Änderungen anbringen wollte. Es hat die entscheidenden Kontroversen seiner Zeit ausgelöst und ist trotz der späteren Veröffentlichungen das Meisterwerk Blondels geblieben, für das höchste Preise geboten wurden und das die Besten der französischen Jugend immer wieder für sich abgeschrieben haben, so daß es auf diesem Weg zu einem sehr großen Einfluß kam.

L'Action

Es ist schwer, den Inhalt dieses Werkes wiederzugeben, dessen äußerste Komplexität sich nur dem geduldigen Leser des Textes erschließt. Alle Kommentare vermögen immer nur Aspekte nebeneinander zu stellen.

Der Gang dieses Werkes wird durch die Frage in Bewegung gehalten: "Hat das menschliche Leben einen Sinn oder nicht, und untersteht der Mensch einer letzten Bestimmung?" (VII). Die Frage ist unausweichlich, und der Mensch löst sie zwangsläufig; mag seine Lösung richtig oder falsch sein, sie ist zugleich frei gewollt und notwendig. Im Leben eines jeden liegt sie eingeschlossen. Deshalb ist es notwendig, die Action zu untersuchen: die Bedeutung dieses Wortes und der Reichtum seines Gehaltes werden sich nach und nach entfalten" (VIII). Die Action, die Tat, das Leben oder die faktische Existenz, insofern darin sich das Geschick des Menschen ereignet oder, wie wir noch sehen werden, insofern das Sein im Menschen wirklich gegenwärtig wird, sie bildet den Gegenstand dieser Untersuchung. Der spezifische Gesichtspunkt, unter dem Blondel seiner Generation gemäß das Problem der Action sieht, ist der des Konfliktes zwischen Autonomie und Heteronomie. Die Action ist nicht nur ein Faktum, sondern ein Notwendiges. Wie kann aber die innere Notwendigkeit unseres Tuns Voraussetzung seiner Freiheit sein? Das ist die Frage für eine Wissenschaft vom wirklichen Tun. Um einen strengen Beweis auf der Ebene der faktischen Existenz zu führen, muß man sich jedes Vorurteils enthalten, muß alle möglichen Entscheidungen und Haltungen mitvollziehen, mögen sie noch so widersprüchlich sein, um das einzig Notwendige herauszufinden, das all diese Möglichkeiten der Existenz beherrscht. Dem unbefangenen Beobachter des tatsächlichen Lebens fällt die unaufhörliche Unausgeglichenheit auf zwischen dem ursprünglichen und dem faktischen Wollen des Menschen, dem wollenden Willen und dem gewollten Willen nach Blondels Terminologie. Beide gilt es miteinander auszugleichen, obwohl die faktischen Taten und Werke des Menschen niemals den Horizont des ursprünglichen Wollens je umgreifen können. Blondel weist zunächst nach, daß man dem Problem des eigenen Geschickes nicht ausweichen kann, weder im Sinne des Dilettantismus, noch im Sinne des Pessimismus, weil beide Haltungen letzten Endes einen inneren Widerspruch in sich schließen. Wir können der Tatsache, daß etwas ist, grundsätzlich nicht ausweichen, also müssen wir auf der Ebene der faktischen Existenz der Verwirklichung all jener Möglichkeiten nachgehen, durch die hindurch unser ursprüngliches Wollen sich entfaltet. Das erste Feld, das durchschritten wird, ist das der Sinnlichkeit, doch hat die Welt der Sinne keinen Bestand in sich selber und treibt den Menschen dazu, dieses Feld zu überschreiten, indem er die Wissenschaft entwickelt. Indes setzt diese ihrerseits eine synthetische Tätigkeit voraus, nämlich die konstituierende Tat eines Subjektes. Der im Bewußtsein jeglichen Tuns zutage tretende Determinismus löst nun notwendigerweise die Freiheit aus. Um sich zu behaupten und sich zu entwickeln entfaltet und verkörpert sich diese im Akt des Vollzugs der Existenz. Indem sie sich mit den Widerständen des Leibes und der Welt auseinandersetzt, baut sie die Individualität auf. Der Einzelne wiederum erfährt und erlangt von außen eine Ergänzung. Nicht nur ist er bestrebt, einen Einfluß nach außen auszuüben und zu einem Zusammenwirken zu gelangen, sondern er will sich mit einem anderen innerlich verbinden, er

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sucht nach Gemeinschaft. So ist der Wille darauf angelegt, die Familie, das Vaterland und die Menschheit zu gründen. Doch geht das Ziel des Menschen noch darüber hinaus. Der Mensch braucht eine praktische Moral, eine Moral der Selbstlosigkeit, die an ein Absolutes (das noch unbestimmt ist) gebunden ist. Der Mensch will sich vollenden, sich selbst genügen, indem er seinem natürlichen Streben eine religiöse Weihe verleiht, indem er den endlichen Dingen, denen er bis jetzt begegnet ist, einen unendlichen und absoluten Wert beimißt. Freilich ist dieser Anspruch wesenhaft Aberglauben und in sich widerspruchsvoll. Man kann sich nicht den Phänomenen zuwenden, um unendlich mehr aus ihnen zu machen, als sie wirklich sind. So führt uns die strenge Verkettung, innerhalb derer sich die menschliche Existenz im Ganzen entfaltet, zu folgendem Schluß: Es ist unmöglich, das Ungenügen der ganzen natürlichen Ordnung nicht anzuerkennen, und es ist unmöglich, ein darüber hinaus greifendes Bedürfnis nicht zu verspüren. Dabei ist es ebenso unmöglich, in sich selber das zu finden, was dieses religiöse Bedürfnis befriedigen könnte. Es ist notwendig und es ist zugleich undurchführbar" (L'Action 319).

jedes der auf diesem existentiellen Wege durchlaufenen Stadien hat seine Eigenständigkeit. Wissenschaft, Gemeinschaft oder Moral sind nicht bloße Mittel, um das Scheitern des Menschen zu erweisen in Bezug auf die Erfüllung der ganzen Weite des Willens. jeder einzelne Gegenstand wird um seiner selbst willen gewollt. Doch der Grund, um dessentwillen man ihn wirklich will, ist eben der gleiche Grund, der uns zwingt, darüber hinaus zu gehen, auch wenn wir den Gegenstand festhalten. ' Diese wachsende Entfaltung des Willens ist im übrigen immerfort notwendig und gewollt zugleich, so daß der Mensch sich all den Bindungen, die mit diesen faktischen Vollzügen verbunden sind, freiwillig unterwirft. So kann man auf dieser Ebene der faktischen Existenz von der Gegebenheit einer Notwendigkeit sprechen, die sowohl unserem innersten Wollen als auch der Heteronomie entspricht, die die Voraussetzung ist für unsere Autonomie.

Diese Bewegung des Wollens setzt sich jenseits der natürlichen Ordnung fort. Ohne die Ordnung der Phänomene zu erschöpfen, durchschreitet sie der Mensch schicksalhaft. Er muß sein eigenes Schicksal anerkennen und gleichsam ratifizieren. Nun aber kann der Wille sich nicht selber greifen und doch muß er es. Aus diesem Widerspruch entspringt die Idee des einzig Notwendigen, dessen, was die geschichtlichen Religionen Gott nennen. Dabei ist zu beachten, daß diese Idee rein phänomenologisch in Erscheinung tritt innerhalb des faktischen Determinismus des Bewußtseins und unabhängig von der Existenzfrage dieses Gottes. Diese Idee des einzig Notwendigen führt den Menschen dahin, für oder gegen die Annahme eines Transzendenten sich entscheiden zu müssen, zu einer Entscheidung, die unausweichlich ist und die Mitte der Philosophie der Action bildet. Der ganze Determinismus der menschlichen Existenz hat nur den Sinn, diesen Konflikt aufbrechen zu lassen.

Auf Gott verzichten wollen oder ihn in seine eigenen Dienste nehmen, bedeutet logisch den Tod der faktischen Existenz, praktisch die Verdammung. Der Mensch kann tatsächlich nicht leben, ohne Gott in den Weg seines Lebens einzuführen, anderseits bleibt Gott für den Menschen unverfügbar. So können wir mit unseren eigenen Kräften dieses notwendige Ziel nicht erlangen, unser Schicksal wird von einem transzendenten oder übernatürlichen Grund bestimmt. Was wir allein tun können, ist, auf einen unbekannten Heilbringer zu warten, und selbst dieses Warten ist ein Geschenk. Wenn eine Offenbarung gegeben werden sollte, wird sie ein bestimmtes praktisches Verhalten von uns erwarten und fordern. Die Philosophie selber führt bis zur Idee eines christlich Übernatürlichen, muß aber zu gleicher Zeit zugeben, daß sie diese Wirklichkeit nicht zu erreichen vermag. Diese läßt sich nur im Glauben und im praktischreligiösen Leben vollziehen.

Demnach ist es nicht Aufgabe der Philosophie, uns in den Besitz des Seins zu versetzen, sie vermag lediglich die Verknüpfungen der Phänomene zu erschließen. In diesem phänomenologisch erschlossenen, notwendigen und zugleich gewollten Prozeß werden wir aber gleichwohl zwangsläufig zu einer ontologischen Aussage geführt. Gewiß ist eine erste Seinsanerkenntnis ursprünglich gegeben, die endgültige und besitzende Anerkenntnis jedoch hängt von einer letzten religiösen Entscheidung ab. Nur in der Annahme unseres Geschickes wird unser Erkennen zu einer wirklichen Aneignung des Seins. Das faktische Handeln kann durch nichts ersetzt werden, und so gehört die religiöse Entscheidung zur wahren Lösung des Seinsproblems.

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Wir haben es somit in L'Action mit einer Phänomenologie der faktischen Existenz zu tun, in der ganz einfach das, was in der Gesamtentfaltung dieser Existenz als unausweichlich und notwendig erschlossen wird, festgestellt werden soll. Diese Phänomenologie enthüllt die Logik der faktischen Existenz, die die aufeinanderfolgenden Schritte auf dem Weg des Lebens beherrscht und bestimmt. Dieser Dialektik des Schicksals entgeht keiner. Der Mensch wird durch sie gestellt, er muß sich dem Göttlichen, das sich ihm gibt, öffnen oder verschließen. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.

Die Stärke dieser Dialektik liegt darin, daß sie kein Ideal von außen setzt. Die Zwangsläufigkeit der Logik der faktischen Existenz ergibt sich von innen heraus. Das Unendliche und das Absolute, das am Ende dieser Logik sichtbar wird, ist keine petitio principii, sondern ein innerlich konstituierender realer Grund alles menschlichen Tuns. In aller Unbefangenheit wird es weder als anwesend noch als abwesend vorausgesetzt. Doch in dem Augenblick, da es sich auf Grund der Erziehung oder durch die Geschichte als mögliche Hypothese anbietet, muß man darauf reagieren und wäre es mit einer Abweisung.

Genau das unternimmt Blondel in seinem Werk, indem er allen Möglichkeiten des Ausweichens methodisch nachgeht und sie sorgfältig analysiert, wobei immer nur eine zwangsläufige Verkettung von Anerkenntnissen sich zeigt, die letzten Endes auf eben jenes letzte einzig Notwendige verweisen, dem man ausweichen wollte. Es wird also nicht eine unendliche Spannweite des Willens vorausgesetzt, sondern aus der Entfaltung der faktischen Existenz, aus ihrer Geschichte würden wir heute sagen, enthüllt sich fortschreitend die Spannweite jenes geistigen Dynamismus, die ihn verborgenerweise von seinem Ursprung her beseelt. Diese Analyse ist darum auch keine ideell gleichförmige, sie ist so reich, so mannigfaltig und so geschmeidig wie das Leben, auf jeder Stufe des Lebens immer wieder anders. Dabei zeigt sich von Stufe zu Stufe eine Inadäquatheit zwischen dem ursprünglichen und dem jeweils vollzogenen Wollen, aber auch diese Inadäquatheit erweist sich als höchst mannigfaltig.

Man kann an dieser Philosophie zwei kennzeichnende Merkmale feststellen. Sie ist eine Philosophie des universal Konkreten und sie ist eine christliche Philosophie. Blondel hat immer wieder gegen das nur Begriffliche, das nur formale und irreale Denken polemisiert9. Er strebt nach einer Wissenschaft des Konkreten, in der das einzeln Einmalige und das Universale in Einklang gebracht sind, so wie im einmalig Einzelnen die Ordnung des Alls widerhallt und wie das Universale an jedem realen Punkt gegenwärtig ist, der zur Harmonie des Alls beiträgt. Die faktische Existenz (action) nun ist das Vermittelnde, in dem das einzeln Einmalige und das Universale ineinander walten, sie ist das substantiale Band, das die konkrete Einheit eines jeglichen Seienden konstituiert, indem es zugleich seine Verbundenheit mit allen anderen gewährleistet. Darum sind die Phänomene, die die Phänomenologie der faktischen Existenz offen legt, einmalig ursprünglich, zugleich aber alle solidarisch untereinander.

In einer solchen Philosophie kann die Wahrheit nur in einem Denken liegen, das das Wissen von allem in eins sammelt. Da aber das Sein der Wahrheit ent-

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spricht, kann dessen Anerkenntnis (nicht die spontane, sondern die reflexe) erst am Ende der phänomenologischen Entfaltung der faktischen Existenz zum notwendigen Aufbruch kommen. Kein isoliertes Glied der Kette vermag das Gewicht des Seins zu tragen, nur die ganze Kette. Das Sein ist nicht im einzelnen Phänomen zu suchen, auch wenn es daran teilhat. Es verbirgt sich auch nicht hinter den Phänomenen wie ein stets auf der Flucht befindliches Gespenst. Es waltet dunkel in der in eine bestimmte Richtung weisenden Gesamtheit der Phänomene. So erscheint die Anerkenntnis des Seins erst am Ende der Blondelschen Phänomenologie, wenn sie auch jeden Augenblick die Gegenstände des Wollens und das Wollen selbst bestimmt.

Unsere Freiheit wird auf dem Wege der faktischen Existenz vor die Alternative gestellt, sich für oder gegen die Transzendenz als das alles Überwaltende zu verhalten. Wenn es richtig ist, daß wir uns zu keinem einzelnen Objekt verhalten können, ohne uns zum Ganzen zu verhalten, so können wir die Realität der Objekte nicht anerkennen, ohne durch diese Alternative hindurchgegangen zu sein. Damit gewinnt die Anerkenntnis des Seins je nach der positiven oder negativen Entscheidung eine sehr verschiedene Tragweite; im Falle der negativen Entscheidung berauben wir uns des Seins, während wir im positiven Fall des Seins teilhaftig werden. Das heißt nicht, daß die objektive Realität von unserem Willen abhinge, sondern lediglich, daß die Wirklichkeit durch unseren Willen für uns das wird, was sie in sich ist. Unser Wille vollzieht also nur unsere Abhängigkeit von der Wirklichkeit. Und darum ist für Blondel die letzte, die religiöse Entscheidung, die wirkliche Lösung der Seinsfrage. Das Problem des Lebens kann nicht ohne die faktische Existenz gelöst werden. Die faktische Existenz wird so zu einen wirklichen metaphysischen Experiment, zur Seinserfahrung.

Die Verdunkelung des Problems der "Action" durch die Kontroversen nach der "Lettre"

Der erste Ansturm gegen L'Action erfolgte vonseiten der Philosophen der Universität und hatte zur Folge, daß man Blondel lange Zeit seine Universitätslaufbahn unmöglich machte. Man warf ihm vor, daß er die Vernunft unter die Botmäßigkeit des Glaubens gebracht habe. Doch Blondel hielt stand; er konnte beweisen, daß wo er von der notwendigen Gegenwart eines "Übernatürlichen" sprach, wir könnten vielleicht sagen eines Überwaltenden im Sein, er den immanenten Bereich seines philosophischen Weges nicht verlassen hatte. jedenfalls gelang es Blondel durch seine philosophische Gegenwehr, nach und nach die Sympathien immer weiterer Kreise von Philosophen sich zu sichern.

Interessanterweise hatte L'Action von seiten der katholischen Theologen keine Einwände erfahren. Hingegen mußte Blondel feststellen, daß seine Intention in L'Action von den Theologen völlig mißverstanden worden war, so daß das Lob, das ihm von seiten der Theologen gespendet wurde, philosophisch ihm viel Verdruß bereitete. Aus diesem Grunde hatte sich Blondel entschlossen, jenen berühmten Brief in den Annales de Philosophie Chrétienne im Jahre 1896

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zu veröffentlichen, der den Titel trägt: Lettre sur les exigences de la pensée contemporaine en matière d'apologétique et sur la méthode de la philosophie dans l'étude du problème religieux.

Im ersten Teil dieses Briefes werden die damals üblichen Methoden der Apologetik behandelt, insbesondere die neueren, die sich mit der geistigen Entsprechung und Übereinstimmung des Christentums mit den Gesetzen des Lebens befassen, dann aber auch die klassische Apologetik der Handbücher. Wenn Blondel die Verdienste dieser verschiedenen Methoden auch anerkennt, so weist er doch deren philosophische Unzulänglichkeit nach. Im zweiten Teil wird dieser Mangel des näheren entfaltet und die Methode entwickelt, die geeignet ist, ihn zu beheben. Dieser Teil des Briefes gehört zu dem Bedeutsamsten, was Blondel geschrieben hat. Er bietet auch heute noch die grundlegende Voraussetzung, der jede Fundamentaltheologie entsprechen muß.

Das Übernatürliche des Christentums stellt nach Blondel einen doppelten Skandal für die Vernunft dar. Denn auf der einen Seite ist es nur echt, wenn es von oben gegeben und als solches empfangen wird, wenn es also nicht von uns gefunden und aus uns abgeleitet werden kann. Auf der anderen Seite ist diese Gabe, die in ihrem Ursprung ein freies Geschenk darstellt, für den Empfänger in der Weise verpflichtend, daß wir zwar unfähig sind, uns zu retten und doch uns auf immer zu verlieren vermögen. Dieses seltsame Paradox eines Ungenügens und einer Unzulänglichkeit in uns bei gleicher Vorhandenheit eines verpflichtenden Anspruchs uns gegenüber bildet das grundlegende Problem der Philosophie, auch einer Philosophie im strengsten Sinn des Wortes.

Dieses Problem kann nur mit Hilfe der Immanenzmethode gelöst werden, der das gesamte Geschick des Menschen unterworfen werden muß. Bei diesem Verfahren kommt es darauf an, das in unserem Bewußtsein zur Angleichung zu bringen, was wir zu denken, zu wollen und zu tun scheinen mit dem, was wir in Wirklichkeit tun, wollen und denken (Lettre, 39). Dabei erweist sich, daß dieser Begriff der Immanenz sich in unserem Bewußtsein lediglich auf Grund der wirksamen Gegenwart des Begriffs eines Transzendenten bewahrheitet, so daß das Problem eines "Übernatürlichen" (Überwaltenden) zur Voraussetzung für das philosophische Denken wird, wobei das Übernatürliche selbst für den Menschen gleichzeitig unausweichlich und unzugänglich ist (ebd. 43). Um also diese Spannung zwischen Vernunft und Glaube zu lösen, benutzt Blondel die Methode des Rationalisten, indem er sie allerdings bis zu Ende führt und dadurch den Ansprüchen sowohl der Philosophie wie der Theologie gerecht wird.

Im dritten Teil des Briefes weist Blondel nach, daß die konsequente Entwicklung der modernen Philosophie günstigere Voraussetzungen schafft zur Lösung des Konfliktes zwischen Vernunft und Glaube als der mittelalterliche Aristotelismus, der sich mehr mit einer äußeren Konkordanz begnüge.

Die Lettre hatte eine umgekehrte Wirkung als L'Action. Während diesmal die Philosophen und insbesondere Brunschvicg ihrer Sympathie für Blondel Ausdruck gaben, zeigten sich die Theologen zum großen Teil unbefriedigt. Zunächst waren sie gereizt wegen seiner heftigen Kritik der scholastischen Apologetik. Das Schlimmere aber war, daß viele Theologen, die von der Fragestellung der Methode und der Sprache der modernen Philosophie keine Ahnung hatten, Blondel völlig mißverstanden und ihm Anschauungen unterschoben, die Ihm völlig fremd waren. Und als die Modernisten-Enzyklika Pascendi erschien, meinten manche unbegründeterweise, Blondel sei darin betroffen. Diese seltsam verkehrte Polemik übte auf die Blondelsche Problematik eine verwirrende Wirkung aus. Die Action wollte ja keine Apologetik sein und doch wurde sie jetzt durch die Lettre hindurch interpretiert, die als eine neue apologetische Methode mißverstanden wurde, während sie eine bloße philosophische

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Methodologie zur Apologetik hatte sein wollen. Diese Verschiebung der Diskussion von der philosophischen auf die theologische Ebene sollte nicht ohne nachteilige Folgen für die weitere Entwicklung Blondels selber bleiben, so sehr sie ihn zwang, seine Philosophie jetzt erst recht aus sich selber zu entfalten.

Diese Polemik, die sehr unsachlich und zuweilen nicht ohne einen gewissen klerikalen Hochmut geführt wurde, hat das Leben Blondels sehr beschattet. Die Hauptangriffe richteten sich gegen den angeblichen kantischen Subjektivismus Blondels mit seiner Anzweiflung der Gültigkeit einer objektiven Erkenntnis, und dann vor allem gegen den angeblichen Anspruch auf das übernatürliche. In Wirklichkeit hatte aber Blondel in L'Action Kant widerlegt, so sehr er sich durch ihn über Renouvier und Lachelier hatte entscheidend anregen lassen. Denn die faktische Existenz war ja nach Blondel die Synthese von Wollen, Erkennen und Sein, die das verknüpfende Band zwischen Metaphysik, Wissenschaft und Moral wieder herstellte. Die faktische Existenz stand gar nicht als ein Irrationales im Gegensatz zum Denken, wie die Action immer wieder mißverstanden wurde. Sie war im Gegenteil selber "der konkrete Akt des lebendigen Denkens, das Ausdruck ist unseres eigenen Seins mit dem übrigen (... ), wie aber eine Initiative, durch die unsere Instinkte, unsere Wünsche und unsere Intentionen sich in allem übrigen Ausdruck verschaffen ..." (L'Action S. 65). Blondel untersucht im Vollzug der faktischen Existenz genau das, "was dem Denken als Denken vorausgeht, es vorbereitet, erzeugt und nährt und ebenso das, was der Tatsache des Denkens folgt und sie zur Entfaltung bringt"10. Denken und Vollzug der faktischen Existenz auseinanderreißen, heißt das Denken von seinen Quellen abschneiden, so daß es unbegreiflich wird. Dieses in sich schwebende losgelöste Denken hat Blondel in seinen ersten Schriften als Intellektualismus auf das entschiedenste bekämpft. Dabei ging es ihm darum, das Denken nicht auf die Funktion eines bloßen Anwesendsetzens oder Vorstellens zu beschränken, sondern ihm den Akt des Denkens selbst und die Fülle des Lebens wieder zurückzugeben. Wenn Blondel einem bloß logischen Argument eines entgegenstellt, das aus dem Gesamtvollzug des Lebens sich ergibt, so tut er das, weil allein das letztere eine Einwirklichung des Seins ist. Alles rationale Denken, das nicht auf einem konkreten Lebensvollzug baut, ist eitel.

Man hat Blondel Fideismus vorgeworfen, als ob er die Gültigkeit der natürlichen objektiven Erkenntnis auf den Glauben gründete. In Wirklichkeit wird bei Blondel die objektive Gültigkeit des Denkens nicht dem ausdrücklichen christlichen Glauben unterworfen, sondern der religiösen Entscheidung, d. h. es wird die geistige Gültigkeit der Erkenntnis im Innern unserer konkreten Entscheidung gesehen. Durch eine negative religiöse Entscheidung beraubt sich der Mensch des Besitzes der erkannten Wirklichkeit, ohne daß die Erkenntnis der Wirklichkeit deshalb hinfällig würde. Die Wahrheit steht im negativen wie im positiven Fall in einem verschiedenen Verhältnis zum Menschen. Den einen wird sie zum Heil, den andern zur Verdammnis. So unterscheidet Blondel

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zwischen dem Erkennen des Seins und dem Sein im Erkennen, und diese Unterscheidung gehört zum Wichtigsten der ganzen Action. Sie nimmt die Unterscheidung Gabriel Marcels vorweg zwischen Haben und Sein wie zwischen Problem und Mysterium. Nur der sich öffnenden Freiheit erschließt sich das Geheimnis des Seins.

Der Vorwurf, der Blondel am hartnäckigsten gemacht worden ist, ist der des Naturalismus. Mit seiner Immanenzmethode mache er das übernatürliche abhängig vom Verlangen des Menschen. Wenn man als Philosoph die Notwendigkeit einer göttlichen Gnade beweisen wolle, dann mache man die Natur zu einem Anspruch des Übernatürlichen und leugne damit die Freiheit der göttlichen Gnade. Nun muß man zugeben, daß diese Frage, die Blondel zu lösen versucht, die allerschwierigste ist, und daß hier die sprachlichen Schwierigkeiten sehr beträchtlich sind. Aber trotz all dieser Schwierigkeiten muß man diesen Vorwurf als ungerecht ablehnen, hat doch Blondel niemals behauptet, das übernatürliche werde von unserer Natur her als notwendig gefordert. Er hat lediglich erklärt, daß es für unsere Natur sich zwingend auswirkt und in uns selbst zu einer Forderung wird, was etwas anderes ist. Für den Philosophen hat der Begriff des "Übernatürlichen" (Überwaltenden) nur dann einen Sinn, wenn er etwas Unzugängliches bezeichnet, etwas also, das unverfügbar ist, das wir aber als solches anerkennen müssen. Und das hat Blondel immerfort festgehalten. Die Schwierigkeit des Verstehens kommt daher, daß dieses "Übernatürliche", das als unzulänglich und unverfügbar anerkannt, zugleich für den Menschen als notwendig aufgefaßt wird. Diese Notwendigkeit des übernatürlichen" ist eine geschichtlich-faktische, die nicht aus einer Analyse der menschlichen Natur abgeleitet werden kann. Wir werden im einzelnen darzulegen haben, daß Blondel mit seinen Analysen keineswegs den Inhalt der Heilsgeschichte herausarbeiten wollte, daß es ihm vielmehr nur darum ging, jenes Apriori zu erschließen, ohne das wir unfähig wären, die uns betreffenden Ansprüche des Christentums auch nur anzuerkennen. Die phänomenologische Deduktion, die dieses Apriori erschließt, werden wir im einzelnen noch genauer zu untersuchen haben.

Blondel hat, wie gesagt, sehr unter diesen ungerechten Vorwürfen gelitten und lange geschwiegen. In vielen Privatbriefen hat er sich gerechtfertigt und deshalb sind diese Briefe, die inzwischen zum Teil veröffentlicht worden sind, recht wertvolle Interpretationen sowohl zu L'Action wie zur Lettre.

Die Zeit zwischen der "Lettre" und der "Trilogie"

Blondel hat 1904 in einer Folge von Artikeln in La Quinzaine das Thema "Histoire et Dogme, les lacunes philosophiques de l'éxégèse moderne" behandelt, und zwar anläßlich der durch Loisy ausgelösten Bibelfrage. Während der theologische Extrinsezismus das Dogma als eine ein für allemal gegebene Welt betrachtete ohne jeglichen inneren Bezug zur Geschichte, so daß die biblischen Fakten lediglich zum Beweis für die Autorität der Kirche herangezogen wurden, trennte der Historizismus die christlichen Glaubenswahrheiten von den Fakten, die der Historiker feststellt. Blondel sah in der Tradition das Band, das diesen unheilvollen Riß überwindet, und seine Auffassung von der Tradition hat sich heute bei den Theologen durchgesetzt.

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Zwischen 1896 und 1914 hat Blondel außer zahlreichen Artikeln kein einziges größeres Werk zu Ende geführt. Die Verdächtigungen seiner Philosophie hatten ihn sehr gehemmt und die Inanspruchnahme von seiten der Apologetik und Theologie hatten ihn von der Philosophie abgelenkt. Beachtlich ist in dieser Zeit seine ständige Mitarbeit am Vocabulaire de la Societé de Philosophie von Lalande, seine Artikel "L'Illusion idéaliste" (1898), "Le Point de départ de la recherche philosophique"11 und sein Memorandum "Principe élémentaire d'une logique de la vie morale" auf dem internationalen Philosophenkongreß von 1900.

Das Jahr 1913 bedeutet die erste Wende in der Entwicklung Blondels. In diesem Jahre wurden die Annales de philosophie chrétienne und damit Laberthonnière indiziert, und obwohl Blondel persönlich selber nicht von der Indizierung betroffen war, nahm er doch am Schicksal seines Freundes, der ihn so oft verteidigt hatte, innigsten Anteil.

Seitdem L'Action vergriffen war, hatte Blondel nicht aufgehört, eine veränderte Neuauflage dieses Werkes vorzubereiten und kündigte diesen Plan 1913 an. 1919 wehrte er sich gegen den Vorwurf des Pragmatismus, er verzichtet darauf, seit dem Werk L'Intellectualisme de St. Thomas' (1908 u. ö.) von Pierre Rousselot, der von ihm angeregt worden war, dem Wort "Intellektualismus" einen negativen Sinn zu geben. Er will aber auch nicht mehr das Wort Philosophie de l'Action gebrauchen, mit dem er einstens sein Denken zum Ausdruck brachte. Schließlich stellt er den Plan einer Neuauflage der Action ganz zurück und will erst ein Buch über das Denken, dann eines über das Sein und schließlich als letztes ein Buch über den Geist des Christentums schreiben. Diese Ankündigung erfolgt zum ersten Mal in einem Brief vom 4. März 1915 an Paul Archambault. Nun hatte er niemals behauptet, daß L'Action die ganze Philosophie ausmache, aber er hatte die faktische Existenz immer gern als das Vorzugsobjekt der Philosophie bezeichnet. Von nun an sucht er eine ursprüngliche dreifaltige Einheit, die sich im Denken, im Tun und im Sein auseinanderfaltet, ehe sie zur letzten und ausdrücklichen Einheit gelangt. Damit hofft Blondel, den Vorwurf der Einseitigkeit, der ihm anläßlich seines ersten Werkes gemacht worden war, ausschalten zu können.

Einen Vorblick auf diese neue Sicht gibt er in seinem Itinéraire philosophique und in seiner französischen Überarbeitung des Vinculum substantiale vom Jahre 1930. Soweit man aus den wenigen kurzen Veröffentlichungen zwischen dem Ende des ersten Weltkrieges und 1928 feststellen kann, widmet sich Blondel in dieser Zeit vor allem dem "realen" Erkennen, jenem konkreten und einenden Denken, das in der mystischen Erfahrung, die ein Gnadengeschenk ist, seinen Gipfel erreicht. (Vgl. Le procès de l'Intelligence (1921) und Le problème de mystique (1925).

Somit bilden die Jahre 1928-1931 in seiner Entwicklung eine neue Wende nach der von 1913-1920. Dieses Mal geht es nicht nur uni eine Wandlung in der Analyse des Erkennens, sondern auch um eine Wandlung in der Philosophie des Übernatürlichen. Er gibt den Kritiken mancher Theologen nach und widerruft zum Teil seine Darlegungen in L'Action und in der Lettre. Bis 1931 war in diesem Punkte keine Wandlung festzustellen. Wohl geht er seit den Kontroversen strittigen Ausdrücken aus dem Wege, er behauptet z.B. nicht mehr, daß die Philosophie das Übernatürliche als eine notwendige Hypothese auffasse. Er verzichtet auf die phänomenologische Epoche, die so viel mißverstanden worden und selbst von seinen theologischen Freunden nicht in ihrer Tragweite erkannt worden war. Er anerkennt die Möglichkeit einer reinen Natur, enthält sich aber lange Zeit der Konsequenzen dieser Lehre. Nachdem er die reine Natur kaum zugegeben hat, behauptet er, er wolle den Menschen einzig in seiner konkreten, transnaturalen Verfassung betrachten und meint, die Philosophie müsse im Menschen das Echo des göttlichen Anrufes finden, das seiner Natur eingeprägt ist. In diesem Punkt herrscht Einheit in den Schriften Le problème de la mystique auf der einen Seite, Histoire et Dogme auf der anderen Seite. Le problème de la philosophie catholique, das 1932 erscheint, bringt hier die entscheidende Wende. Dieses weniger ausgeglichene Werk umfaßt drei Teile. Der erste befaßt sich mit kommentierten Auszügen aus der Lettre, der zweite mit Gedanken über das Werk von Kardinal Dechamps, der dritte schließlich mit Reflexionen über das Problem der christlichen Philosophie,

[Der philosophische Weg Maurice Blondels - Seite 231]

wie es durch Bréhier und Gilson ausgelöst wurde. Gegen Bréhier verteidigt Blondel die Idee einer christlichen Philosophie, wobei er den Ausdruck katholische Philosophie vorzieht. Über Gilson hinaus behauptet er, daß eine Philosophie nicht nur deshalb als christlich bezeichnet werden müsse, weil sie geschichtlich den Einfluß des Christentums erfahren habe, sondern auch insofern sie den Menschen für den Glauben aufschließt.

Vor allem im ersten und dritten Teil hat er Gelegenheit, die Idee des "Übernatürlichen" in der Philosophie festzulegen. Man spürt dem Werk aber an, daß es hier tastet. Was auffällt ist, daß hier der Stand der reinen Natur eingebaut ist. Gewiß hat es ihn nicht gegeben, es hätte ihn aber geben können, und er ist also nichts Unmögliches. In dieser Schrift wird das zugleich natürliche und unwirksame Verlangen der Vernunft nach einer übernatürlichen Beseligung vertreten.

Blondel bezieht sich ausdrücklich auf einen Artikel von P. Guy de Broglie aus dem Jahre 1924: De la place du Surnaturel dans la philosophie de saint Thomas. Doch müsse die Philosophie weitergehen, wenn sie feststellt, daß die spekulative Möglichkeit zu einem faktischen Vollzug übergeht. Neben einer reinen Philosophie ist Platz für eine gemischte Philosophie, die, ohne die Bereiche zu vermischen, die religiösen Begriffe in Anspruch nehmen darf, um im natürlichen Menschen den Widerhall zu analysieren, den diese Realitäten, je nach dem Verhalten des Menschen, im Menschen zur Folge haben. So gibt es neben der Wissensphilosophie eine reale Philosophie. Zuvor aber müssen die Wesenheiten, die Möglichkeiten metaphysisch untersucht werden, ehe eine Philosophie des Konkreten möglich wird. Diese Wesensphilosophie führt zum Eingeständnis des Ungenügens und zur Anerkenntnis eines möglichen "übernatürlichen. Die reale und gemischte Philosophie untersucht die Ansprüche des Christentums und bildet eine eigentliche Religionsphilosophie. Diesen neuen Plan hat er in seinen späteren Werken ausgeführt. Die Wesensphilosophie kündigt sich an in den drei Werken: La Pensée, L'Etre et les êtres und L'Action. Die reale Philosophie soll verkörpert werden in dem Werk La philosophie et l'esprit chrétien12.

Die Trilogie

Sie war eine langsam gereifte und konstruktive Antwort auf die Fragen, die die alte Action und die Lettre ausgelöst hatten. Der Grundunterschied dieser weiteren Entfaltung seiner früheren Werke gegenüber seiner Anfangsphilosophie ist vor allem folgender: Statt einer Phänomenologie der faktischen Existenz entwickelt Blondel jetzt eine Metaphysik mit einer Theorie des Denkens, einer Ontologie und einer Theorie der Wirkursachen. Die direkte Behandlung des Christentums wird einem eigenen Werk vorbehalten.

Das Denken

Das Werk La Pensée ist keine Erkenntniskritik. Es stellt die organische Entfaltung des Denkens dar, angefangen von seinem dunklen Werden im Kosmos, über die verschiedenen Stufen seines spontanen Aufstiegs in der Welt des Biologischen, des Psychischen und des Bewußtseins bis zu seiner letzten intellektuellen Entfaltung. Von seinem Ursprung bis zu seinem Endpunkt trägt es zwei Eigentümlichkeiten: eine noetische, d. h. eine einförmig universalisierende, eine rational verknüpfende Funktion - und eine pneumatische, d. h. eine für das unaussprechliche einmalig Einzelne aufschließende Funktion. Diese beiden unterschiedenen und doch solidarischen Funktionen geben dem Denken einen unaufhörlichen Anstoß, einen sowohl rationalen wie vitalen Rhythmus, der die Natur wie das Einsichtsvermögen voranbewegt, ohne daß sie sich je einholten. Und eben diese beständige Inadäquatheit läßt im Menschen die Idee

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Gottes aufkeimen und bestimmt sie. Sie führt bis zum Verlangen nach einer innigeren Vereinigung mit ihm, zur Hypothese der Möglichkeit eines "übernatürlichen, das das Denken vollendete. Und in der Ungewißheit seiner Verwirklichung zeigt es wenigstens die Bedingungen an für einen Zugang zum christlichen Leben.

Eine strenge Dialektik ähnlich der der Action arbeitet alles im Denken Eingeschlossene heraus, von einem Schritt zum andern den inneren Riß überwindend, der es in zwei Elemente teilt, um ihn beim nächsten wiederzufinden. Die jetzige Unterscheidung ist eine andere als die zwischen realem und begrifflichem Denken, sie erstreckt sich darüber hinaus auf den Kosmos, den es in zwei Rhythmen durchpulst. Das spekulative Denken erscheint jetzt nicht mehr degradiert, weil das Noetische und Pneumatische in ein und demselben Denken gemeinsam walten.

Diese Unterscheidung zweier Aspekte im Denken ermöglicht es Blondel, den Gott der Philosophen und den Gott des Glaubens sowohl zu unterscheiden als zu vereinen, wodurch das Spiel der Freiheit in Gang gebracht, der Mensch zur Wesensentscheidung getrieben wird. Diese Dialektik zweier Denkweisen erweist sich wertvoll für die Analyse des Glaubens in bezug auf seine intellektuelle und vertrauende Seite. Darin bietet La Pensée der Theologie etwas, was in den Frühwerken noch nicht enthalten war.

Dieses Werk erweist die empiristischen, rationalistischen und idealistischen Lehren über das Denken als unvollständig. Darin, daß Blondel die volle Wahrheit nur im Ganzen sucht, ohne die relative Wahrheit der Teile zu übersehen, darin bleibt er sich treu. Er bemüht sich, gegenüber früher die Bedeutung der abstrakten Erkenntnis zu betonen. Das hat ihm manche der alten Einwände von seiten des einen oder andern Thomisten nicht erspart. Er hat sich zur objektiven Gültigkeit der ersten Prinzipien und der rationalen Begriffe bekannt. Er hat später den Begriff der intellektuellen Entscheidung in intellektuelle Agnition abgeschwächt. Er hat dennoch bis zu seinem Tod einige nicht zu überzeugende Gegner behalten, obwohl der Vorwurf, er habe die objektive Gültigkeit der menschlichen Erkenntnis geleugnet, absurd ist.

Das Sein und das Seiende

Wenn das Denken nach Blondel auch Sein ist, ist es nicht das ganze Sein. Die Welt des Seins bedarf einer eigenen Untersuchung, wobei die Idee des absoluten Seins mit der des kontingenten Seins zum Ausgleich gebracht werden muß.

In L'Etre et les êtres entwickelt er eine konkrete und dynamische Ontologie. Ausgehend von der spontanen Erfahrung und einem impliziten Begriff des Seienden, die in uns gegenwärtig sind, gelangen wir dazu, dieses Seiende in verschiedene Welten zu stufen, ohne daß es in irgendeiner dieser Welten erschöpft würde. Allein in der Anerkenntnis des absoluten Seins kommt das Sein zur Selbstangleichung. Das Sein in sich ist in der ganzen geschaffenen Ordnung gegenwärtig und wirksam, es verleiht dem kontingent Seienden seinen Bestand, stuft es in eine gegliederte Welt von Ordnungen und beseelt es mit einer zielgerichteten Dynamik. Es verleiht dem einzeln Seienden seine Norm. In einer "ontologischen Normative", die den originellsten Beitrag dieses Werkes bildet, entwickelt Blondel diese regelnde Dynamik, die sich hindurchzieht von der Materie bis zu den Personen und bis zu den Voraussetzungen ihrer Selbstverwirklichung, schließlich bis zur Wesensentscheidung, darin sich das Schicksal des Einzelnen angesichts einer freien Gabe, eines möglichen übernatürlichen ereignet.

Die neue Action

Über diese Entscheidung führt die Ontologie so wie das Werk über das Denken zum Problem der Action. Im neuen Werk greift Blondel aber keineswegs die frühere These auf. Ehe er die faktische Existenz behandelt, widmet er einen ganzen Band dem metaphysischen Problem der Zweitursachen in ihrem Verhältnis zum Geheimnis des reinen Wirkens. Erst danach glaubt er das menschliche Handeln behandeln zu können. Die Dialektik des zweiten Bandes ähnelt der der Action von 1893. Nur erscheinen die verschiedenen Stufen nicht mehr so ineinandergefügt wie früher. Das Wort "Determinismus" wird vermieden, vor allem in den höheren Stufen der Philosophie und der Religion, an dessen Stelle tritt der Ausdruck "Implikation".

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Wichtige Partien werden übernommen, andere werden bewußt unterdrückt. Am bezeichnendsten ist der Wegfall des letzten Teiles, der der Welt des Religiösen gewidmet war, dem Band des Erkennens und der faktischen Existenz im Sein . Die direkte Behandlung eines christlich Übernatürlichen wird auf ein späteres Werk zurückgestellt. Statt dessen erfolgt die Behandlung einer "rationalen Möglichkeit einer fremden und äußersten Welle".

Die Trilogie ist von einer starken Einheit beherrscht. Überall waltet eine vorläufige Gezweiung, deren wir aufgrund eines unausweichlichen Strebens nach Einheit bewußt werden. Immer wieder stehen wir vor einer Inadäquatheit, die Raum läßt für eine neue Welt, die uns zu neuer Initiative drängt unter dem Anspruch einer innersten Bewegung, unter dem Zug eines höheren Zieles. Überall waltet die Gegenwart eines Unendlichen, das unser Denken anerkennen und unser Tun aufgreifen muß. Durch diese Entscheidung unserer Existenz wird uns die Möglichkeit einer innigen Vereinigung mit Gott gegeben, vorausgesetzt, daß sie uns angeboten wird. Die Trilogie ist somit eine "Philosophie des Ungenügens", eine Metaphysik des Geschöpfs. Sie sucht nach einem transzendenten Gott, von dem sie das Geschenk einer Vereinigung erträumt.

Die Grundintention ist also auf der einen Seite die gleiche geblieben wie in der alten Action. Das Denken behält denselben konkreten und dynamischen Charakter. Die Methode ist immer die der Implikation. Die Verbindung von rationalem Erkennen mit dem religiösen Leben und einer starken Liebe ist geblieben. Die philosophische Reflexion öffnet sich gleicherweise dem Beitrag des Christlichen. So ist das Spätwerk in vieler Hinsicht nur die Entfaltung des Frühwerkes. Und doch gibt es genug Unterschiede in der Grundstruktur, in der Gesamtanlage und in ziemlich bemerkenswerten Wandlungen einzelner Thesen beider Werke, daß es berechtigt erscheint, von einer zweiten Philosophie zu sprechen, auch wenn keine grundsätzliche Fremdheit zwischen beiden Werken herrscht. Das Werk von 1893 war eine Phänomenologie der faktischen Existenz. Es versetzte sich gleichsam in das faktische Handeln und folgte der Dialektik des realen Lebens, um seine innere Logik zu beschreiben. Die Trilogie ist spekulative Philosophie, Metaphysik. Die Wissenschaft von der faktischen Existenz erscheint erst am Schluß im letzten Band, dazu mit beträchtlichen Änderungen. Gewiß kann man sagen, das Spätwerk entfalte die ersten Ansätze auf verbreiteter Basis, die spekulative Philosophie der Trilogie mache nur das explizit, was eine "Metaphysik in der zweiten Potenz' des ersten Kapitels der alten Action ansatzweise enthielt. Doch die Umkehrung des früheren Gedankengangs ändert diesen selbst. In der ersten Philosophie war das entscheidende Prinzip jene geistige Dynamik, die die menschliche Existenz im Ganzen beseelt. Im zweiten ist das entscheidende Prinzip das Sein. Gewiß ist der Unterschied in einer Hinsicht nur scheinbar: die Dynamik der faktischen Existenz zielte auf das Sein, von dem sie ihren Ausgang nahm; und das Sein der Trilogie äußert sich als normative Dynamik. Doch die erste Philosophie zielte auf die Seinsanerkenntnis durch eine Phänomenologie hindurch, während die zweite im ganzen ontologisch ist. Blondel selbst scheint später seine früheren phänomenologischen Aussagen durch die Brille seines Spätwerkes gelesen zu haben, in der Absicht, die alten Einwände zu entkräften.

Die Trilogie wurde als das Werk eines großen Metaphysikers gefeiert. Doch steht die alte Action unserem heutigen Fragen näher. Hinzu kommt, daß das Frühwerk noch voll . jugendlichen Elans glänzend geschrieben ist, während die Trilogie, die Blondel als Blinder abfassen mußte, lange nicht so straff aufgebaut ist und den Leser ermüdet. Außerdem steht sie nicht mehr so im lebendigen Fluß der zeitgenössischen geistigen Strömungen wie das Frühwerk, mag es auch wegen seines Reichtums trotz solcher äußerlichen Mängel seine große Bedeutung behalten. Die erste Action bleibt dennoch das Meisterwerk Blondels.

Die Philosophie und der Geist des Christentums

La Philosophie et l'Esprit chrétien bildet ein Werk für sich. Auf die Philosophie des Ungenügens der Trilogie folgt die Philosophie der christlichen Religion. Nachdem die jeglichem Menschen innewohnenden bewußten oder unbewußten notwendigen Implikationen untersucht worden sind, analysiert Blondel das Christentum in seiner geschichtlichen Wirklichkeit, jedoch

[Seite 234 - Robert Scherer] rein philosophisch. Was liegt in der geschichtlichen Gegebenheit des Christentums an Intelligiblem, das zu unserer menschlichen Wirklichkeit einen Bezug hat, mag es auch in sich für unsere Natur unverfügbar sein? Im ersten Band untersucht Blondel diesen inneren Bezug zwischen dem geistigen Anspruch des Menschen und dem Angebot des göttlichen Heilsplans. Angefangen von der übernatürlichen Berufung des Menschen bis zu deren Vollendung in der Erlösung paßt sich der göttliche Vorsehungsplan unserer Natur, ja selbst den Abwegen unserer Freiheit an. Die göttlichen Mysterien lösen auf einer höheren, uns von uns aus unzugänglichen Ebene, unsere philosophischen Rätsel: so z. B. das Mysterium der Heiligsten Dreifaltigkeit das philosophische Problem eines einsamen Gottes; das Mysterium unserer übernatürlichen Berufung das Problem des Schicksals der Unerfüllbarkeit; das Mysterium des menschgewordenen Mittlers das Problem einer ständigen vermittelnden Funktion; das Mysterium der Erlösung das Problem einer wiedergutzumachenden Schuld.

Der zweite Band enthüllt die Risiken der Menschheit auf ihrem Lebenswege und die Hilfen, die Gott ihr gibt, um bis zum Zugang zum ewigen Leben durchzuhalten: die Kirche, die Sakramente, die Frohbotschaft, die Verheißung der letzten Dinge.

So etwas gab es in der Tat noch nicht: eine Untersuchung des inneren Bezugs zwischen christlichen Mysterien und philosophischen Problemen. Leider erweist sich die Lektüre dieses Werkes noch schwieriger und unerfreulicher als die der Trilogie. Dann bietet es gegenüber dem Frühwerk nichts Neues. Das gleiche Anliegen hatte bereits der letzte Teil der ersten Action viel besser dargestellt. Deshalb hat dieses Werk Blondels so wenig Widerhall gefunden.

Blondel ist am 4. Juni 1949 gestorben, ohne daß er den dritten Band hatte vollenden können. Doch hinterließ er zwei sich ergänzende Untersuchungen "Le Sens chrétien" und "De l'Assimilation" die unter dem Titel "Exigences philosophiques du christianisme"13 erschienen. Diese Arbeit war zwanzig Jahre früher entstanden und ist viel angenehmer zu lesen. Im ersten Teil untersucht Blondel philosophisch den "Geist des Christentums-, den inneren Bezug zwischen Dogma und christlichem Leben. Im zweiten prüft er die mögliche Verwirklichung einer inneren Aufnahme des göttlichen Lebens im Menschen. Doch unterscheidet er immer wieder dabei Natur und Gnade.

II

Zur Interpretation des Frühwerks

Der Unterschied des Frühwerkes gegenüber dem Spätwerk Blondels macht es verständlich, daß es verschiedene Interpretationen seines Werkes gibt, je nachdem, ob man das Spätwerk als konsequente Entwicklung und Vollendung des frühen ansieht, oder ob man, ohne die innere Beziehung des frühen zum späteren zu leugnen, doch einen entscheidenden Richtungswechsel in den beiden Entwicklungsstadien feststellt. Besonderes Aufsehen hat die beachtliche Interpretation Henry Dumérys erregt, die er in einer Untersuchung über die Lettre 14 von 1896 gegeben hat14. In dieser Interpretation setzt er sich von älteren Auslegungen ab und behauptet, für Blondel sei die Philosophie ihrem Wesen nach reflektierende und kritische Analyse. Sie setze sich zur Aufgabe, innerhalb einer gleichen intelligiblen Reihe die verschiedenen Voraussetzungen des faktischen Handelns miteinander zu verknüpfen und zu ordnen, wobei sie der freien Entscheidung die Sorge überläßt, das Handeln in die Tatsächlichkeit umzusetzen. Eben diese Unterscheidung erlaube es Blondel, die Idee des "Übernatürlichen"

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in die ideelle Verknüpfung der Voraussetzungen des Handelns einzufügen, ohne der Transzendenz und der Gnadenhaftigkeit des göttlichen Geschenkes zu nahe zu treten.

Duméry ist sich bewußt, eine neue Interpretation zu geben, die nicht ohne polemische Spitze gegen frühere Deutungen ist, namentlich gegen die P. de Montcheuils15. Nach P. de Montcheuil zeigt Blondel, daß wir tatsächlich ein "Übernatürliches" wollen, ohne es uns selber geben zu können. Dieser tatsächliche Wille ist aber nicht der ausdrückliche Wille des Glaubensaktes. Er ist ein impliziter Wille, der im Grunde des spontanen Handelns jeglichen Menschen, und sei es eines Ungläubigen, dialektisch (und nicht durch psychologische Innenschau) erschlossen wird. Ferner ist das Objekt dieses Willens nicht das Übernatürliche in seinem christlich positiven Sinn, sondern in einer noch ganz unbestimmten Form, wie sie vom Philosophen, selbst einem heidnischen, geahnt wird. Wenn man diese doppelte Unterscheidung beachtet, kann man leicht feststellen, daß das Beweisverfahren Blondels dem Akt des Glaubens vorausgeht und keineswegs den Bereich der Philosophie verläßt.

Begegnung von Philosophie und Christentum

Für das moderne Denken ist der Begriff der Immanenz die Voraussetzung jeglichen Philosophierens. Demnach kann nichts in den Menschen eingehen, was nicht irgendwie aus ihm herauskommt bzw. in einer gewissen Entsprechung zu seinem innersten Selbst steht. Auf der anderen Seite steht für den Christen fest, daß das Übernatürliche im eigentlichen Sinn niemals vom Menschen her abgeleitet werden kann. Scheinbar schließen sich also Philosophie und Christentum grundsätzlich aus. Dies läßt Blondel aber nur für das Verhältnis zwischen rationalistischer Philosophie und Christentum gelten, nicht aber für das Verhältnis zwischen der Philosophie, wie Blondel sie versteht und den Ansprüchen des Christentums.

Es handelt sich also bei Blondel um das philosophische Problem der Begegnung von Philosophie und Christentum und nicht um das theologische Problem der Beziehung zwischen dem Menschen als Geschöpf und seiner übernatürlichen Bestimmung. Wenn Blondel vom natürlichen Menschen spricht, denkt er nicht an den Stand einer reinen Natur. Man kann nicht einmal behaupten, daß er an das denkt, was er später den transnaturalen" Stand des Menschen bezeichnet. Wenn es wahr ist, daß die Annahme der durch das Evangelium verkündigten Gabe Gottes unter Androhung der Verdammnis notwendig ist, dann muß im Menschen als bloßem Menschen eine Spur davon vorhanden sein, selbst in dem, der das Christentum nicht kennt oder es verwirft; folglich muß sich dies in einer noch so selbständigen Philosophie widerspiegeln. Gerade gegenüber dem Rationalismus, für den der Begriff der Immanenz den Schlüsselbegriff jeder Philosophie darstellt, gilt es zu beweisen, daß das Bedürfnis nach einem Andern geradezu die Voraussetzung ist für eine autonome Ordnung.

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Was ist aber dieses Bedürfnis für den Philosophen? Oder wie kann das, was der gläubige Christ als notwendig glaubt, für den Philosophen den Charakter des Notwendigen bekommen? Wenn die von außen an uns herantretende Notwendigkeit zugleich als Objekt unseres impliziten Wollens in Erscheinung tritt, d. h. wenn wir uns innerlich tatsächlich so verhalten, daß wir ihr gegenüber empfangsbereit werden. Die Erforschung der Geschichte des Christentums als Faktum allein genügte nicht, uns die Notwendigkeit als solche überzeugend nahezulegen. Mit anderen Worten, der getrennte Aufweis der Möglichkeit und der Wirklichkeit des Christentums nützt nichts, wenn wir nicht von der uns treffenden Notwendigkeit, einer "übernatürlichen" (überwaltenden) Wirklichkeit, überzeugt sind.

So soll die Philosophie nach Blondel die Rolle einer "subjektiven Vorbereitung" des Glaubens übernehmen. Das heißt nicht, daß die Philosophie von Gott fordere, daß er sich offenbare, sie soll lediglich das Apriori erschließen, das uns ermöglicht, die Ansprüche der Offenbarung zu erfassen und aufzunehmen.

Die Methode, die die Philosophie zu diesem Zweck anwenden muß, ist die konsequent und integral angewandte Immanenzmethode, die zuerst ein "Übernatürliches" auszuschließen schien. "Die Philosophie, die eine komplexe und zwingende Methode anwendet, die es gestattet, im Strom ein und desselben Determinismus alle Formen des Denkens und des Lebens zu durchschreiten und hindurchzuziehen, hat so die Rolle aufzuzeigen, was wir unausweichlich haben und was uns notwendig fehlt, damit wir in unserer gewollten faktischen Existenz (action voulue) all das reintegrieren können, was durch unsere spontane faktische Existenz gesetzt und gefordert wird" (Lettre 85). An einer andern Stelle formuliert Blondel seine Methode so: Sie besteht darin "im Bewußtsein selber das miteinander in eine Gleichung zu setzen, was wir zu denken, zu wollen und zu tun scheinen mit dem, was wir in Wirklichkeit denken, wollen und tun. So werden in den künstlichen Negationen oder in den unnatürlich gewollten Zielen noch die tieferen Anerkenntnisse und die unwiderstehlichen Bedürfnisse wiederentdeckt, die in ihnen eingeschlossen sind" (ebd., 39). Diese Methode ist die gleiche, die in L'Action bei jeder neuen Stufe ein neues Auseinanderklaffen zwischen der faktisch vollzogenen Existenz (volonté voulue) und der ursprünglichen Existenz (volonté voulante) offenbarte, bis schließlich die letzte Voraussetzung in Erscheinung tritt, die ihre Angleichung zu ermöglichen vermöchte. Diese Enthüllung wird nicht mittels einer Innenschau erzielt, sondern durch eine Reflexion. Man muß sich also hüten, Blondels Denken psychologisch deuten zu wollen. Die ursprüngliche Existenz ist nicht ein unbewußter oder unterbewußter Wille, sondern sie beseelt die faktische Existenz wie die voluntas ut natura die voluntas elicita bei den Scholastikern; sie existiert darum auch nicht losgelöst für sich, sondern aktualisiert sich im faktischen Wollen eines bestimmten Zieles. Erschlossen wird sie durch regressive Analyse, und zwar als das den faktischen Willen Ermöglichende, der allein Objekt einer direkten Erkenntnis sein kann.

Folgt man der ständigen Entwicklung unserer vielfältigen Ansprüche, so ge-

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langt man dazu, im Innern des Bewußtseins das aufleuchten zu sehen, was uns zuvor von außen auferlegt zu sein schien. Wenn Blondel allerdings in diesem Zusammenhang von "Übernatürlichem" spricht, so muß man beachten, daß er darunter nicht das christlich Übernatürliche meint, wie es die Theologen verstehen, sondern einen letzten Schrei der Natur, einen äußersten Anspruch des sittlichen Bewußtseins und des Denkens. Man mag wegen der Doppeldeutigkeit des Ausdrucks und noch mehr wegen seiner theologischen Provenienz ihn für philosophisch ungeeignet halten. Man darf ihm auf jeden Fall nichts unterschieben, was im Widerspruch zu Blondels Gedankengang steht. Es ist für Blondel klar, daß die Wirklichkeit des christlich "übernatürlichen sich vollständig unserer Verfügung entzieht. Die philosophische Feststellung eines natürlichen Bandes der Notwendigkeit zwischen den Glaubenswahrheiten bzw. der gläubigen Existenz mit dem alles umgreifenden Determinismus innerhalb der menschlichen Existenz sagt philosophisch nichts aus weder über den Inhalt noch über das Faktum des christlichen Glaubens. In diesem Sinn nur kann selbst dem Gläubigen philosophisch einleuchtend gemacht werden, daß er selbst in seiner Leugnung eines "Übernatürlichen" im Grunde nach einem solchen sucht, nämlich in dem inneren Widerspruch, der im Akt des Leugnens eingeschlossen liegt. Da ohne die Anerkenntnis der Notwendigkeit unseres Offenbleibens für ein "Übernatürliches" die innere Angleichung unseres ursprünglichen und unseres faktischen Wollens nie erreicht wird, liegt diese Anerkenntnis in der Logik der faktischen Existenz, d. h. sie ist eine geschichtlich notwendige.

Blondel meint seinen Beweisgang nicht so, als übernehme er aus der Glaubenswelt den Begriff des "Übernatürlichen", wie Duméry interpretiert, um dann zu zeigen, daß dieser Begriff in die innere Logik der faktischen Existenz integriert werden kann. Blondel will mehr. Er will zeigen, wie es in der Logik des Vollzugs der faktischen Existenz liegt, daß die Idee eines offenbar werdenden "Übernatürlichen" (Überwaltenden im Sein) in Erscheinung tritt. Es geht ihm um den Prozeß dieser Genesis des Erscheinens eines "Übernatürlichen", nicht um eine bloß reflektierende Analyse des Begriffs eines christlich Übernatürlichen. Ohne eine innere Initiative gelangt der Mensch nicht in den offenen Raum jener waltenden Wirklichkeit eines "Übernatürlichen".

Genesis der Idee eines "Übernatürlichen" in L'Action

Es gilt nun, die Stufen in diesem Prozeß des Innewerdens eines "Übernatürlichen" genauer zu betrachten. Die Genesis der Idee eines "Übernatürlichen" erfolgt in drei Stufen, die dem dritten, vierten und fünften Teil von L'Action entsprechen. Diese drei Stufen sind: 1) das Ungenügen der natürlichen Ordnung, 2) die absolute Notwendigkeit, sich dem göttlichen Wirken gegenüber, wie auch immer es sei, aufzuschließen, 3) die Notwendigkeit, die übernatürliche Ordnung im christlichen Sinne ernst zu nehmen. Es ist entscheidend wichtig, den unterschiedlichen Grad dieser drei Stufen in bezug auf das "Übernatürliche' zu beachten.

Erste Stufe

Nachdem Blondel gezeigt hat, daß das Problem des Lebens weder unterschlagen noch im

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nihilistischen Sinn gedeutet werden kann, weil übrig bleibt, daß Seiendes ist, weist er nach der Entfaltung der faktischen Existenz auf der Ebene der Sinnlichkeit, der Wissenschaft, der Moral und des Sozialen nach, daß die faktische Existenz sich nicht in diese Ordnungen eingrenzen läßt. Dies bildet den dritten Teil von L'Action mit dem Titel "Le phénomène de l'action". "Der Mensch kann sein Schicksal eingrenzen weder in den Freuden der Sinne, noch in den Errungenschaften der positiven Wissenschaften, noch in der Entfaltung des individuellen Lebens, noch in der Entfaltung der Familie oder der Gesellschaft, noch in den Anschauungen der Metaphysik oder der unabhängigen Moral, noch in den abergläubischen Formen, die er erfindet, um sein Leben zu erfüllen und zu weihen' (L'Action 41). Aus dieser Unerfülltheit auf Grund des immer neuen Klaffens zwischen ursprünglichem und faktischem Wollen muß man zugeben, daß der Mensch in der natürlichen Ordnung seine Erfüllung nicht finden kann. Unter natürlicher Ordnung versteht Blondel die Ordnung des Faktischen, wie es den positiven Wissenschaften zugänglich ist, das Feld der menschlichen Betätigung.

Das würde bedeuten, daß die so verstandene natürliche Ordnung als Schöpfungsordnung gedacht werden muß. Indes ist dies eigentlich eine Vorwegnahme einer späteren Stufe. Bleiben wir bei dem Ungenügen der natürlichen Ordnung. Es scheint so zu sein, als tendiere die faktische Existenz danach, ihren Halt in einem Absoluten zu suchen, das jenseits der Kette der Phänomene zu suchen wäre. Und nun versucht der Mensch, seine faktische Existenz dadurch zu vollenden, daß er sich dieses Absoluten bemächtigt und sich einen Gott nach seinen Maßen schafft. Darin besteht das Phänomen des Aberglaubens. Blondel schließt darin eine gewisse Metaphysik ein, die sich einbildet, durch eine natürliche Religion die Hand auf das transzendente Sein legen zu können. Denn es ist Aberglaube, den Unendlichen und Absoluten in ein Objekt zu setzen, darüber der Mensch verfügt und wäre es auch nur durch sein Denken. Das ist der subtilste Aberglaube.

Was also zunächst feststeht ist lediglich die negative Tatsache einer Unvollendbarkeit unserer faktischen Existenz bei gleichzeitig feststehender Notwendigkeit der Aufgeschlossenheit für das Wirken eines Andern.

Zweite Stufe

Der nächste Schritt führt zu dem "einzig Notwendigen" und durch dieses zur grundsätzlichen Entscheidung des Menschen für oder gegen das "einzig Notwendige". Das unzugänglich Notwendige wird jetzt als ein "Übernatürliches" (Überwaltendes) bezeichnet, noch in einem ganz allgemeinen, nicht spezifisch christlichen Sinn. Diese Stufe umfaßt den vierten Teil von L'Action unter dem Titel: "L'être nécessaire de l'action".

Die erste Stufe führt den Menschen notwendig in eine Krise, die aus seiner innersten Situation entspringt. Der Mensch will tatsächlich, hat aber ursprünglich gar nicht wollen gewollt. In allem, was er will, stößt er auf Widerstände und erfährt Leid. Unzulänglichkeiten und Schuld, deren Folgen nicht wieder gut zu machen sind, lassen ihn in seinem Wollen scheitern und schließlich wird alles Scheitern durch den Tod vollendet. Doch macht dieses Scheitern zugleich offenbar, daß im Menschen ein ursprünglicher unwiderstehlicher Wille unsere Existenz beseelt. Denn ohne dieses ursprüngliche Wollen würden wir uns des Scheiterns gar nicht bewußt werden. Ich kann dem Geschick nicht ausweichen, das mich heißt, mich selber zu wollen, auch wenn ich es nicht fertig bringe. Was ist die Folge dieser Krise?

Durch sie werden wir der Gegenwart des "einzig Notwendigen" bewußt, das den ganzen Determinismus innerhalb der einzelnen Vollzüge unserer Existenz beherrscht. Kraft dieser Gegenwart erhält unser ganzes Willensleben einen transzendenten Charakter, den des Offenseins für das einzig Notwendige", der umschlagen kann in der Selbstverschließung, die sich selbst genügen will. Im ersteren Fall, da sich der Mensch dem Werk eines Andern aufschließt, findet er die Erfüllung seines ursprünglichen Wollens, im zweiten Fall zerstört er seine eigene Existenz, stirbt er an seinem eigenen Widerspruch.

Das Offensein vollzieht sich im Tun des Guten in aller Gelassenheit und in Unterwerfung unter dem Anspruch des "einzig Notwendigen". Hat man alles getan, als erwarte man nichts von Gott, soll man noch alles von Gott erwarten, als habe man nichts getan (L'Action 385).

[Der philosophische Weg Maurice Blondel - Seite 239]

Das "Übernatürliche" meint also das, was für den Menschen absolut unmöglich und zugleich absolut notwendig ist. Es liegt in der Existenz des Menschen, daß sie über ihn hinausschreitet. Das Warten auf das Kommen des "einzig Notwendigen" ist selbst eine Gabe. Man darf dieses "Übernatürliche" nur nicht im Sinne des Dogmas verstehen, sondern in einem unbestimmten Sinn der Offenheit, in der sich das Zusammenwirken von Grund, ursprünglichem Willen und faktischer Existenz abspielt. In dieser Offenheit liegt die Anerkenntnis, daß nicht wir unser eigener Ursprung sind, sondern ein Anderes, Unverfügbares und daß das einigende Band, das uns selbst mit diesem Andern mit absoluter Notwendigkeit verbindet, nicht unserer eigenen Initiative entspringt, sondern dem Wirken eines Andern. Auf Grund der Tatsache, daß Blondel sich hier auf Aristoteles beruft, nach dem im Menschen ein höheres Leben walte als das seine, ein göttliches, wird man ihm nicht unterschieben können, er habe bei seinem philosophischen Begriff des ""übernatürlichen' an das christlich Übernatürliche gedacht. Es handelt sich bei ihm um ein unbestimmt "Übernatürliches", um unendliches Überwaltendes, das nicht gegenständlich wie ein Ding erstrebt werden kann. Dieser Durst nach dem Absoluten, das als solches anerkannt wird, drückt sich aus in der Gelassenheit einer gewissen Selbstverleugnung, in einer souveränen Freiheit.

Blondel hat wiederholt an Stelle des philosophischen Begriffes des "Übernatürlichen" auch den des Transzendenten gebraucht, wenn man sie auch nicht als unbedingt gleich setzen darf. "In seinem rationalen Sinn meint das Wort übernatürlich das, was uns im Transzendenten wesenhaft unzugänglich ist" (L'Action II [1937] 521). Es handelt sich also bei Blondel um einen Mittelbegriff zwischen Transzendenz und Übernatürlichem im streng christlichen Sinn.

Dritte Stufe

Im 5. Teil von L'Action mit dem Titel "L'achèvement de l'action" wird der christliche Begriff des "übernatürlichen zum erstenmal eingeführt mit der Begründung, es sei unwissenschafllich, den Geist aller Religionen zu untersuchen unter Ausschluß des Geistes des Christentums. So widmet er sich der Betrachtung der christlichen Glaubenswahrheiten, die er hypothetisch in seinen philosophischen Gedankengang einfügt. Nachdem feststeht, daß der Mensch sich nicht vollenden kann, ohne sich dem Wirken eines Andern aufzuschließen, wäre es unvernünftig, den christlichen Begriff des geoffenbarten übernatürlichen nicht wenigstens hypothetisch als eine mögliche Antwort auf das Suchen des Menschen in Betracht zu ziehen. Dabei werden die Glaubenswahrheiten hier nicht als geoffenbarte, sondern als für unser philosophisches Fragen offenbarende Wahrheiten zur Geltung gebracht, nämlich im Hinblick auf eine Lösung unserer menschlich hoffnungslosen Frage nach dem Sinn unserer Sehnsucht, unseres Offenseinsollens. Im positiven Sinn einer Entsprechung wird unsere Hypothese zu einer notwendigen. Das bedeutet nicht, daß damit die innere Möglichkeit einer christlichen Offenbarung erwiesen würde, sondern lediglich soviel, daß "etwas Analoges zu dem, was uns die Dogmen vorlegen", dem menschlichen Willen notwendig zu sein scheint, damit unsere faktische Existenz zum inneren Ausgleich gelangt. Das würde praktisch bedeuten, daß wir das christlich übernatürliche in diesem Heilssinne annehmen müßten. Und in diesem Sinne will Blondel verstanden wissen, daß die Idee des "übernatürlichen mit Notwendigkeit entsteht (L'Action 406), und zwar in unserem Bewußtsein. Dabei darf man den phänomenologischen Charakter der ganzen Fragestellung und des Denkverfahrens nicht aus dem Auge verlieren. Nur im Sinne einer ersehnten Antwort auf eine noch unbestimmte subjektive Initiative will dieses Entstehen der Idee des christlich Übernatürlichen verstanden werden (L'Action 397). Indem die Philosophie diese Entsprechung in der Ordnung der Erscheinungen feststellt, sagt sie die absolute Unzugänglichkeit des christlich "übernatürlichen aus.

Verhältnis der drei Stufen

Es ist wichtig, beim Übergang der einzelnen Stufen, ihre selbständige Funktion wie ihren Zusammenhang genau zu beachten. Es handelt sich vor allem beim Übergang von unbestimmt "Übernatürlichen" zum christlich Übernatürlichen nicht um einen analytischen, sondern umaPA [Seite 240 - Robert Scherer]

einen synthetischen Übergang. Im Fortschreiten von einer Stufe zur andern ist die höhere nicht in der niederen eingeschlossen. Es wird eine wesenhafte Geschichtlichkeit durch ein kontingent geschichtliches Faktum bestimmt. Das ist entscheidend wichtig. Die Notwendigkeit, die sich aus diesem Übergang ergibt, ist darum eine geschichtlich praktische.

Im ganzen Prozeß der Erschließung der Idee des Übernatürlichen ist nicht die dritte, sondern die zweite die wichtigste. Daß dies übersehen wurde, hat sowohl den Philosophen als auch den Theologen Anlaß zu den peinlichen Mißverständnissen gegeben. Man hat viel zu sehr der dritten Stufe seine Aufmerksamkeit geschenkt, was eine falsche Perspektive ergab. Die entscheidende Stufe ist die der geschichtlichen Entscheidung angesichts des inneren Konfliktes des Willens, sich dem Wirken eines unbestimmten übernatürlichen' zu öffnen oder nicht.

Die Seinsanerkenntnis und die religiöse Entscheidung

Nachdem Blondel die Notwendigkeit des "Übernatürlichen" im praktischen Sinn erwiesen hat, will er zeigen, daß die Idee eines objektiven Existierens notwendig in diesem ganzen Prozeß mitgegeben ist. Während die faktische Existenz (action) als das Vermittelnde den ersten Rang zu haben und das Sein demgegenüber ein Abgeleitetes zu sein schien, treten die Wahrheit und das Sein nun als erstrangig in Erscheinung, ohne daß sie aufhörten, von der faktischen Existenz bestimmt zu sein. Die Wissenschaft von der faktischen Existenz soll im Sinne Blondels die alte Ontologie erneuern.

Dieses Thema "Le lien de la connaissance et de l'action dans I'être" bildet den Inhalt des berühmten letzten Kapitels der alten Action. Interessanterweise fehlte dieses Kapitel ursprünglich, d. h. zu dem Zeitpunkt, als Blondel am 7. Juni 1893 seine These vorlegte. Es wurde erst nachträglich im Buch aufgenommen, das im November desselben Jahres im Handel erschien. Was weniger bekannt ist, ist die Tatsache, daß Blondel im Manuskript, das 1892 in der Sorbonne zur Druckerlaubnis vorgelegt wurde, einen ganz anderen Text abgefaßt hatte, der übrigens kürzer war und den Titel trug: "L'universelle et l'éternelle consistance de l'action". Blondel verteidigte darin, daß der Mensch als Person, wenn er durch die übernatürliche Gnade zum göttlichen Leben erhoben ist, das totale Band aller Dinge und deren wirklichen Seinsgrund darstelle. Es ging ihm also in diesem Text noch nicht um die Rechtfertigung eines objektiven Existierens der Dinge bzw. um die Konstituierung einer Ontologie.

Wie kam dieser Wandel zustande? Es scheint, daß sein Freund Delbos, der ihm nach der Lektüre dieser Fassung schrieb, diesen Wandel ausgelöst hat. Er schreibt: "Es scheint mir, als gäbest Du der Metaphysik zu wenig Raum. Nach Dir erscheint sie als ein Moment in der Entfaltung der faktischen Existenz und Du betrachtest sie viel mehr im Hinblick auf ihre Wirksamkeit als auf ihre innere Natur. Ich neige auch wie Du dazu, mich in acht zu nehmen vor einer Metaphysik, die sich zur Religion machen möchte; doch es scheint mir, als habe sie mehr zu tun, als die faktische Existenz zu erziehen oder vorzubereiten. Sie kann auch die Rolle haben, ihr die Weihe zu geben oder besser gesagt, sie zu rechtfertigen." (Lettre de Delbos … Blondel, 14. Mai 1893). Etwas später schreibt er ihm: "Was Du, meiner Meinung nach, wunderbar gezeigt hast, sind die Notwendigkeiten, die die faktische Existenz braucht und fordert und von denen sie lebt. Wäre es nicht logisch, ihnen durch die Metaphysik eine Gültigkeit und gleichsam eine absolute Objektivität zu verleihen?" (Lettre de Delbos … Blondel, 30. Mai 1893). Um dieser Anregung zu folgen, dürfte Blondel aus seiner ersten Fassung "eine Art Metaphysik in der zweiten Potenz" (L'Action 464) gemacht haben, um die dem Menschen innewohnende Wahrheit sozusagen in ihrem äußeren Bestand zu rechtfertigen.

Die Schwierigkeit des Verständnisses dieses Kapitels hat geradezu Berühmtheit erlangt. Aus dem Einblick in die Redaktion des Manuskriptes und seinen Korrekturen, die anläßlich des 100jährigen Jubiläums in den Archives de Philosophie (Janvier-Mars 1961) erschienen sind, läßt sich eindeutig feststellen, daß Blondel die Einschmelzung der früheren Fassung in die neue nicht

[Der philosophische Weg Maurice Blondels - Seite 241]

ganz gelungen ist. Und doch bildet gerade dieses Kapitel einer der bedeutsamsten Texte Blondels. Darum ist es sehr wichtig, dieses Kapitel sorgsam zu analysieren, um zu sehen, in welchem Sinn Blondel die Seinsanerkenntnis an die religiöse Entscheidung gebunden sehen wollte.

Das Problem des Seins in der Action

In der Action entfaltet Blondel eine Aufenanderfolge von praktisch notwendig sich ereignenden tatsächlichen Entscheidungen. Bei dieser phänomenologischen Analyse ist die Frage der objektiven Existenz in diesem Geschehensablauf völlig offen gelassen. Eben dieses Verfahren hatte viele seiner Leser vor den Kopf gestoßen, so daß Blondel sich später fragte, ob er die Frage nach dem Sein nicht hätte früher anschneiden sollen. Das geht aus seiner Korrespondenz mit Delbos hervor, der ihm vorhielt, er müßte sich mehr um die metaphysische Grundlegung seiner Philosophie bemühen. Blondel entgegnete ihm, "das Problem der objektiven Realität ließe sich nützlicherweise erst anschneiden, nachdem der gesamte Determinismus der faktischen Existenz einschließlich der bestimmten Voraussetzungen des religiösen Lebens im eigentlichen Sinn entfaltet worden wären. Nur um diesen Preis will mir scheinen ist die Transponierung der alten Ontologie vollständig und wirksam." (Brief Blondels an Delbos, 25. September 1894). Es geht Blondel also hier um den geeigneten Ort, an dem die Seinsfrage zu stellen ist. Auch in seinem Artikel "L'Illusion idealiste", der gewissermaßen eine Zusammenfassung des letzten Kapitels der Action bildet, schreibt er: Ehe wir nach der Gültigkeit unseres Denkens fragen, müssen wir wissen, was wir tatsächlich denken, (... ). Die erste Aufgabe, die sich jeder philosophischen Frage stellt, ist die, so umfassend als möglich die kontinuierliche Kette des Denkens ohne jegliches realistische oder idealistische Vorurteil zu entfalten" (a.a.o. 108-109). Das ist der einzige Weg, mit Erfolg zu einer Leugnung oder einer Anerkenntnis des Seins zu kommen. Blondel hütet sich davor, in der flüchtigen Folge der Phänomene die Wirklichkeit des Seins zu sehen. Man muß zunächst die Gegenstände der Erkenntnis so nehmen, wie sie erscheinen, d. h. in ihrer Verschiedenheit und in ihrer Solidarität und nicht in einer Ordnung der Phänomene die Wahrheit der anderen Ordnung suchen wollen, sondern wissen, daß jede ihre eigene Wahrheit und Wirklichkeit besitzt. Deshalb verschiebt Blondel die Frage nach der Anerkenntnis des Seins auf das Ende seiner phänomenologischen Reflexion, wobei er durch diese Methode aufweisen will, daß die Seinsanerkenntnis bereits am Anfang des spontanen Denkens eingeschlossen war. Die Aufgabe der reflexen Erkenntnis ist es, uns zum Eingeständnis der Wahrheit zu zwingen, die zuvor in uns ist, ehe sie in ihr ist. Das heißt, daß die reflexe Erkenntnis erst am Ende ihres Vollzuges zur Wahrheit gelangt, während wir schon aus ihrem Grunde her leben (vgl. L'Action, 427). "Die ganze Bewegung des inneren Lebens mündet in die notwendige Anerkenntnis des Seins, weil diese Bewegung auf eben dieser Notwendigkeit gegründet ist" (ebd., 472.). Man kann auch sagen, daß die praktische Notwendigkeit, die ontologische Frage zu stellen, uns notwendig zur ontologischen Lösung des praktischen Problems führt (ebd., 425).

[Seite 242- Robert Scherer] Das letzte Kapitel der Action entwickelt zunächst zwei Thesen; es gibt in uns eine sichere Erkenntnis des Seins, der wir uns nicht entziehen können, und zwischen Sein und Erkennen besteht eine absolute Entsprechung und eine vollkommene Wechselseitigkeit (L'Action, 427428). Des weiteren entwickelt es die andere These, daß zwischen Erkennen und Sein eine radikale Verschiedenartigkeit besteht, daß zwischen Sehen und Besitzen des Seins der Abstand unendlich bleibt, und daß, wenn es ein notwendiges Sein der faktischen Existenz gibt, diese nicht notwendigerweise das Sein in sich enthält (L'Action, 428). Durch diese Unterscheidung gewinnt das Problem des Erkennens und des Seins einen neuen Sinn. Ihre Methode und ihre Lösung erscheinen umgewandelt.

Um die erste Behauptung zu beweisen, zeigt Blondel auf der Ebene der Reflexion und durch phänomenologische Analyse, wie in uns notwendigerweise die Idee einer realen oder objektiven Existenz steht und wie wir dann unvermeidlich die Realität der Gegenstände unserer Erkenntnis und der Ziele unseres Tuns bejahen. Er bleibt somit innerhalb seiner integralen Dialektik der faktischen Existenz. "Was man auch denken und was man auch wollen mag, auf Grund allein der Tatsache, daß man denkt und daß man will, ergibt sich die universale Ordnung des Determinismus. Man wird vergeblich versuchen sie zu leugnen oder sie zu zerbrechen; durch eben die Anstrengung, die man macht, sie zu zerstören oder sich ihr zu entziehen, setzt man und bestätigt man sie" (L'Action, 431). Sie erscheint also immer als unabhängig von unserem bewußten Willen und unserem reflexen Denken. Sie ist für uns etwas Naturnotwendiges. Und so ist dieser Determinismus, der durch unser eigenes spontanes Denken zu uns gehört, zu gleicher Zeit etwas außerhalb von uns, dem Ziele gleich, das unser bewußtes Handeln bestimmt. Und so "erscheint uns die Natur der Dinge als eine objektive Realität, weil sie sich uns durch die Einheit des Determinismus aufdrängt und weil sie uns eine freie Entscheidung auferlegt" (L'Action, 431). Die Frage nach dem Sein stellt sich zugleich vom Intellekt wie vom Willen her. Die Kette der Erscheinungen, wie sie sich dem Verstande und dem Willen in wechselseitiger Bezogenheit und doch jeweils ursprünglich anbieten, finden sich gleicherweise in die Genesis der Idee einer realen Existenz eingeschlossen. Wir anerkennen Sein vor und selbst in jeder vollständigen Leugnung des Seins.

Das ist noch eine abstrakte und allgemeine Vorstellung einer objektiven Existenz. Der unvermeidliche Weg unserer Reflexion macht bald offenbar, daß sie sich notwendigerweise in konkreten Objekten realisiert. Denn die ganze Kette des Determinismus ist nur wirklich durch das, was sie zusammen verknüpft und determiniert. Indem wir also die Realität des Ganzen anerkennen, anerkennen wir notwendigerweise die der Objekte, die sie konstituieren und ohne die sie nicht ist. Wir dürfen die Realität einer Sinneswahrnehmung oder eines Phänomens dahinter suchen in einem andern Phänomen. Es gibt kein privilegiertes Phänomen, jedes hat seine eigene Wahrheit und Realität.

Diese Notwendigkeit einer Anerkenntnis der Realität aller Phänomene des Erkennens und des Wollens in ihrer jeweils unableitbaren Ursprünglichkeit und in ihrer unverbrüchlichen Solidarität bildet das Leitmotiv des letzten Kapitels der Action. Unter die Phänomene, die die Dialektik der faktischen Existenz unvermeidlich vor das Bewußtsein bringt, gehört die Idee der großen Alternative, die jeden Menschen vor die Entscheidung stellt, für oder gegen die Annahme des Willens und Wirkens Gottes sich zu stellen mit der Idee der entsprechenden Folgen des Lebens oder des Todes. Wenn es nun wahr ist, daß wir kein einziges Objekt in das Sein setzen können, ohne darin die gesamte Reihe zu setzen, so folgt daraus, daß wir die Realität auch nicht eines Phänomens anerkennen können, ohne den Punkt zu kreuzen, an dem wir vor die Entscheidung gestellt sind, uns einer möglichen göttlichen Initiative zu öffnen oder uns in uns selbst zu verschließen. je nach dieser Entscheidung ist dann die notwendige Erkenntnis des Seins lebendig oder tot, seinsbereichernd oder -beraubend. "Es gibt somit kein Objekt, dessen Realität wir erfassen und anerkennen könnten, ohne durch einen Akt des Denkens die ganze Reihe umfaßt, ohne uns faktisch den Forderungen der Alternative unterworfen zu haben, die sie uns auferlegt, kurz, ohne durch den Punkt hindurchgegangen zu sein, an dem die Wahrheit des Seins leuchtet, die jede Vernunft erleuchtet und angesichts derer jeder Wille sich äußern muß. Wir haben die Idee einer objektiven Realität, wir anerkennen die Realität der Objekte; um dies zu tun, müssen wir notwendigerweise implizite das Problem

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unserer Bestimmung stellen und alles, was wir sind und alles, was für uns ist, einer Entscheidung unterwerfen. Nur über diese Alternative gelangen wir zum Sein und zum Seienden. je nachdem wie man sie trifft, verwandelt sich unvermeidlicherweise auch der Sinn des Seins. Die Erkenntnis des Seins impliziert die Notwendigkeit einer Entscheidung; das Sein im Erkennen ist nicht vor, sondern nach der Freiheit der Wahl" (L'Action, 435 f.). Die Aufgeschlossenheit dem Sein gegenüber, das jede Vernunft erleuchtet und dem gegenüber jeder Wille antwortet, ist die Grundentscheidung der Existenz, die das zentrale Anliegen Blondels bildet. Aber gibt Blondel dadurch, daß er die objektive Gültigkeit der Erkenntnis von einer existenziellen Entscheidung abhängig macht, nicht doch seinen Gegnern recht? Nein; denn vor dieser existenziellen Entscheidung wirkt sich bereits eine subjektive Erkenntnis der Wahrheit aus (L'Action, 439), die jene notwendige Alternative heraufbeschwört; und nach der existenziellen Entscheidung ereignet sich eine "objektive Erkenntnis der Wirklichkeit" (L'Action, 439). Die existenzielle Entscheidung spielt sich das ganze Leben hindurch ab. So ist das Erkennen stets zugleich ein Vorgang vor einer Entscheidung und nach einer neuen Entscheidung; es ist immer subjektiv und objektiv zugleich. Blondel betont immer wieder diese zwei korrelativen und sich ergänzenden Aspekte in seinem Denken, die nie außeracht gelassen werden dürfen. "Auf Grund der Notwendigkeit der Analyse" schreibt er am 3. April 1903 an Dom Beda Lebbe, "sind wir gezwungen, das, was der faktischen Existenz vorausgeht und ihr nachfolgt, insgesamt zu vereinen und in zwei symmetrische Anteile auseinanderzunehmen. In Wirklichkeit ist der Rhythmus des Erkennens und des praktischen Tuns ein infinitesimales Fortschreiten; und da wir immerzu tätig sind, um zu erkennen und immerzu erkennen um zu handeln, bleibt die Spekulation nie rein spekulativ So darf man die Vernunft nicht gebrauchen, als habe das Erkennen nicht seine Stütze in einem zum mindesten impliziten, aber doch realen Besitz des Seins; nur sage ich, daß diese Erkenntnis, ist sie einmal durch die Reflexion ausgelöst, nicht ein Ziel in sich ist, nicht eine Haltestelle, sondern ein Mittel, eine Befähigung zum Tätigsein und eben dadurch zur weiteren Erlangung von Sein." Auf der einen Seite also muß man methodisch künstlicherweise auseinanderhalten, was der faktischen Existenz vorausgeht und nachfolgt. Auf der andern Seite muß man sich des ständigen Umschlags von Erkennen und Tun bewußt bleiben. Auf der einen Seite müssen wir dem Sein entgegengehen, auf der andern Seite sind wir bereits und schon immer im Sein. Es läßt sich nicht leugnen, daß in dieser Unterscheidung Blondels das Zeitmoment, ja das Geschichtliche eine Bedeutung hat, auch wenn es nicht thematisch behandelt wird.

Um Blondel nicht subjektivistisch mißzuverstehen, muß man sich bewußt bleiben, daß die Subjektivität bei ihm keineswegs individuellen, sondern universalen Charakter hat. Das rein Subjektive ist für ihn das, was sich aus der Logik der faktischen Existenz dem Denken notwendig als gegenwärtig darbietet. Das subjektive Erkennen ist somit durchaus Erkennen der Wahrheit, Vergegenwärtigung des Objekts im Subjekt, Seinserkenntnis, so daß "zwischen Erkennen und Sein eine absolute Entsprechung und eine vollkommene Reziprozität" herrscht (L'Action, 428). Das subjektive Erkennen bei Blondel entspricht also durchaus der objektiven Erkenntnis bei Aristoteles und den Scholastikern.

Warum gebraucht aber dann Blondel diesen scheinbar irreführenden Ausdruck eines subjektiven Erkennens? Weil für ihn das objektive Erkennen im üblichen Sinne des Wortes nicht objektiver ist als das subjektive, dafür aber zur Sicht des Wahren den vollen Besitz des Wirklichen hinzufügt" (L'Action, 440) bzw. seinen positiven Verlust" (L'Action, 43 8). "Statt uns vor das gegenwärtig zu setzen, was zu tun ist, sammelt sie in dem, was getan ist, das, was ist' (L'Action, 43 8). Beide Weisen des Erkennens unterscheiden sich inbezug auf das Sein als Sehen und Besitzen (bzw. Verlieren). Blondel spricht von einer "intel-

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lektuellen Differenz" zwischen beiden (ebd., 438) und behauptet von der ersten, wenn sie in die zweite übergeht: "ohne das Objekt zu wechseln, ändert sie die Natur" (ebd., 437).

Blondel hat wegen der durchgehenden Mißverständnisse seine Terminologie angepaßt und statt von subjektivem Erkennen, von spekulativem Erkennen und statt von objektivem Erkennen von effektivem Erkennen gesprochen. Daraus wird bei ihm später das begriffliche und reale Erkennen und noch später das noetische und pneumatische Denken, freilich in einem komplexeren Zusammenhang.

Schon am Ende von L'Action (470-474) unterscheidet Blondel die Wissenschaft der Praxis" von der praktischen Wissenschaft", die aus der Erfahrung und als Folge der Entscheidung wächst. Diese entspräche also dem objektiven Erkennen", während die Wissenschaft der Praxis' die subjektive Wissenschaft" ist, die aus der Entfaltung der Logik der faktischen Existenz entsteht.

Blondel hält daran fest, daß wir in unserer Wahl das Ganze dessen implizieren, was die Spekulation zu bestimmen versucht" und daß wir dennoch diese explizite Erkenntnis nicht besitzen brauchen, um unsere Verantwortung richtig ins Spiel zu setzen" (Brief Blondels an den Abbé J. M. Bernard vom 31. Mai 1897).

Für Blondel war jedenfalls zur Zeit der ersten Action die Wissenschaft der faktischen Existenz" die Philosophie schlechthin. In der Lettre steht in diesem Zusammenhang ein bezeichnender Satz: "Sache der Philosophie ist es, den Inhalt des Denkens und die Postulate der faktischen Existenz zu bestimmen, ohne jemals das Sein zu liefern, dessen Begriff sie untersucht, das Leben zu umfassen, dessen Forderungen sie analysiert, dem zu genügen, wofür sie die zureichenden Voraussetzungen festlegt und eben das zu realisieren, von dem sie sagen muß, daß sie es notwendigerweise als wirklich denkt (Lettre, 66). Das antike Denken glaubte noch naiv an seine Selbstgenügsamkeit (ebd. 56). Die Vernunft war etwas Göttliches nicht nur in dem Sinn, daß Gott Logos und das Wort Gott ist, sondern in dem Sinn, daß unsere spekulative Erkenntnis die höchste Kraft in sich schließt und aus sich in uns das göttliche Werk vollendet (ebd., 55). Bei Aristoteles bildet der Akt der Kontemplation das göttliche Leben im Menschen, ein Akt, der in uns seinen Ursprung und sein Ziel hat. Die Metaphysik ist die volle Wissenschaft des Seins, die das Sein und, wenn man so sagen darf, das Heil selbst vermittelt (ebd., 56). Bei Spinoza finden wir die gleiche absolute Hegemonie des spekulativen Erkennens, die zu einer Säkularisierung des Religiösen führt. Doch selbst unter der Verdrängung des Christlichen beginnt die moderne Philosophie nach und nach auf diese Selbstgenügsamkeit zu verzichten und versteht, "daß sie eben das, was sie notwendig als wirklich denkt, nicht realisieren kann" (Lettre, 60-64). Blondel will mit dieser Kritik an der alten Metaphysik sagen, die Wissenschaft vom Sein genüge nicht, um das Sein zu vermitteln in dem Sinn als dieses das Heil des Menschen und das göttliche Leben in ihm ist. Mit Sein ist nicht das Seiende gemeint, sondern das, was sich selbst als das Absolute genügt. Und in diesem Sinn vermag die Philosophie uns niemals in den Besitz des Seins als des Absoluten zu bringen. Und doch hätte die

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Philosophie keine Vorstellung von ihrer Unfähigkeit und ihrem Ungenügen, wenn sie dieses Absolute nicht als etwas notwendig Reales anerkennte. Beides bedingt sich gegenseitig.

Während also für den Griechen die Erkenntnis der Wahrheit Theorie, Betrachtung dessen, was offenbar bzw. unverborgen, ist, erscheint sie für das Evangelium als Bund bzw. als Vereinigung mit dem Wirklichen. Blondel entwickelt die erste, bis sie in die zweite einmündet. In diesem Sinn aber bleibt nach ihm gültig, daß die menschliche Theorie des Seins nicht ausreicht, um den Menschen in Verbindung mit dem Absoluten zu bringen.

"Indem sich die Vernunft der faktischen Existenz zuwendet, entdeckt sie mehr als wenn sie sich selber zuwendet, ohne deshalb aufzuhören, rational zu sein." (Brief an die Revue de Métaphysique et de Morale, Januar 1894)16.

Bis jetzt wurde die notwendige Seinserkenntnis betrachtet, insofern sie das Subjekt zur Entscheidung und demzufolge zum praktischen Erkennen vorbereitet; nunmehr muß diese ins Auge gefaßt werden, insofern sie erstere auf positive oder negative Weise vollendet. Blondel drückt letzteren Vorgang so aus: Damit die Wahrheit wirklich im Erkennen herrsche, das wir von ihr haben, müssen wir in dem, was in ihr notwendig ist, das wollen, was nicht gewollt werden kann, und das angleichen, was sie an freier Zustimmung fordert mit dem, was sie mit unausweichlicher Klarheit auferlegt" (L'Action, 440). Durch solches Wollen soll nicht die Wirklichkeit sozusagen auf Grund eines willkürlichen Dekrets zum Subsistieren in sich gebracht werden. "Dieser Willensakt bringt sie nicht in Abhängigkeit von uns; er macht uns von ihr abhängig. Es ist Aufgabe jener notwendigen Erkenntnis, die der Entscheidung vorausgeht und sie vorbereitet, eine unbeugsame Regel zu sein; doch von dem Augenblick, da das, was sie an notwendig Gewolltem hat, frei gewollt wird, hört sie deshalb nicht auf, eine Erkenntnis zu sein. Ganz im Gegenteil, sie gewinnt dabei, indem sie, wirklich in ihr gegenwärtig, das Sein trägt, dessen Vorstellung sie bislang nur besaß' (ebd., 440). Und eben dieses Sein, das nach unserer positiven Entscheidung unser Erkennen erfüllt, ist eben dasselbe, dessen notwendige Anerkenntnis am Zielpunkt der theoretischen Erkenntnis in Erscheinung tritt als die Wahrheit, aus der wir verborgenerweise von Anfang an leben. Die universale Ordnung ist in unserem Erkennen nur real in dem Maß, als wir dem in ihr Notwendigen voll zustimmen" (L'Action, 441).

Aber auch die negative Entscheidung wird von der notwendigen Anerkenntnis des Seins getragen. Die objektive Gültigkeit der subjektiven Erkenntnis bleibt ja bestehen. Es fällt lediglich die positive Willensentscheidung aus, die das Sein real gegenwärtig setzt im Sinne einer existenziellen Teilhabe. Durch den negativen Willensentscheid bleibt der Mensch in der positiven Bewegung des Erkennens zum Sein hin; dieses Erkennen entbehrt lediglich der Seinswirklichkeit, die nach wie vor gefordert wird (vgl. L'Action, 438). Der Mensch kann dem Sein sich nicht entziehen, das einzig Notwendige und Nötigende waltet über allen Abwegen und Irrwegen seines Lebens. Die ursprüngliche Anerkennt-

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nis des Seins bleibt durch die menschliche Entscheidung hindurch wirksam wie ein zweischneidiges Schwert. Doch das Sein aussagen und es besitzen ist zweierlei.

Erkennen und Sein

Genau an dieser Stelle, ausgehend von den beiden letzten Zeilen von S. 441 hat Blondel seine frühere Fassung des Schlußkapitels eingearbeitet. Im Manuskript bzw. in den Satzfahnen finden sich lange Zusätze, so daß aus dem ursprünglich einen Teil drei und schließlich fünf Teile geworden sind.

Wie vollzieht sich die Erfüllung unseres Erkennens mit dem Sein? Wenn wir auch nicht allen Dingen unsere Zustimmung geben können, so können wir uns selber bejahen, allerdings nur, indem wir über das einzig Notwendige" hindurchgehen, darin mit Recht der Grund des umfassenden Determinismus gesehen wird. "Wenn unser eigener Wille uns daran hindert, zu unserem wahren Willen zu gelangen, so kann nichts wirklich in uns sein, solange wir die Einsamkeit des Egoismus nicht aufgegeben haben, indem wir an die Stelle der Eigenliebe, die alles verliert was sie gewinnen will, den göttlichen Willen setzen. Es gilt, die doppelte Wahrheit zu verstehen: wir vermögen zu Gott zu gelangen, ihn wahrhaft anzuerkennen, so zu tun als sei er und in Wirklichkeit zu bewirken, daß er sei und ihn für uns zu haben, nur indem wir für ihn sind und ihm alles übrige opfern; alles übrige teilt sich uns nur über diesen Mittler mit und die einzige Weise, das alle für alle' zu erlangen besteht darin, es allein mit ihm' zu beginnen" (L'Action, 441). Durch diesen Verweis auf die praktische Erkenntnis in der Erfahrung des Verzichts soll nicht die theoretische Erkenntnis entwertet werden. In dieser praktischen Erfahrung der Entsagung finden wir unseren inneren Zusammenhalt und die universale Vereinigung mit den Menschen (vgl. ebd., 441-443). Ohne Liebe der Menschen untereinander gibt es keinen Gott für den Menschen, und ohne Gott gibt es keinen Menschen für den Menschen (ebd., 446). Die Liebe der Menschen untereinander, ihr Füreinanderexistieren ist die Voraussetzung für jede Eigenexistenz. Das gilt auch für das Verhältnis zu Gott. "Die gesamte natürliche Ordnung bildet zwischen Gott und dem Menschen wie ein Band und wie ein Hindernis, wie ein notwendiges Mittel der Vereinigung und wie ein notwendiges Mittel der Unterscheidung' (ebd., 449). So führt die Notwendigkeit, Gott zu lieben wie die, die Menschen zu lieben, was dasselbe ist, zur Notwendigkeit, das Sein des Phänomens anzuerkennen. Was bedeutet aber Sein, wenn von objektivem Existieren die Rede ist? Nach Blondel ist es das, was als Vermittelndes zwischen dem notwendigen und willentlichen Erkennen steht, also die Gesamtordnung der Phänomene, deren Verkettung die Wissenschaft der faktischen Existenz entrollt hat und darin unser Tun seine Ziele sucht. Mit anderen Worten, es sind "jene heterogenen und doch solidarischen Synthesen, die uns als natürliche Mittelstadien erschienen zwischen dem, was wir wollen, weil wir es noch nicht sind, und dem, was wir sein sollen, weil wir es gewollt haben werden" (ebd., 451). Keine dieser Synthesen darf bevorzugt werden. "Die Wirklichkeit ist nicht mehr in dem

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einen Zielpunkt als in den andern, noch in dem einen ohne die andern; sie wohnt in der Vielfalt der wechselseitigen Bezüge, die sie alle untereinander solidarisch macht; sie ist dieses Komplexe selbst" (ebd-, 453). So "müssen die Gegenstände das sein, als was sie erscheinen und ihre Realität besteht nicht in irgendeinem unzugänglichen Hintergrund, sondern in eben dem, was darin genau bestimmt und exakt erkennbar ist (... ). Sein bedeutet für sie, unabhängig von den Unzulänglichkeiten des menschlichen Tuns und Erkennens, so zu subsistieren, wie sie von uns erkannt und gewollt sind' (ebd., 453 f.). Wie man Blondel Subjektivismus vorwerfen konnte, ist angesichts solcher Sätze unerfindlich, wollte er doch gerade den idealistischen Subjektivismus überwinden. Gewiß sind die Gedankengänge Blondels in diesem Kapitel sehr verschachtelt und schwierig. Ihrer Logik wird man sich jedoch nicht verschließen können.

Ein besonderer Gedanke Blondels verdient noch Beachtung. Blondel fragt sich, unter welcher Voraussetzung die objektive Realität dessen begründet werde, was wir notwendig anerkennen, und er findet diese Begründung in der Mittlerschaft des Fleisch gewordenen Wortes. Um das zu verstehen, muß man dessen eingedenk sein, daß Blondel von Anfang an in der christlichen Lehre von der Menschwerdung des Wortes Gottes den Angelpunkt einer integralen Metaphysik, einschließlich der Kosmologie gesucht hat. Seine Untersuchung jener seltsamen Theorie vom vinculum substantiale bei Leibniz galt letzten Endes dem Aufweis, daß der Mensch gewordene Gott als universaler Mittler jenes substantiale Band ist, das alles Seiende bindet. Dieselbe Auffassung hat er bei Bernhard von Clairvaux gefunden.

An sich hätte der Mensch, der berufen war, das göttliche Leben in sich zu empfangen, dieser universale Mittler werden sollen. "Aber damit trotz allem die Mittlerschaft total, permanent und freiwillig sei (... ) bedurfte es vielleicht eines Mittlers, der sich zum Erleidenden dieser integralen Wirklichkeit und gleichsam zum Amen des Weltalls machte Er ist das Maß aller Dinge" (ebd., 461).

Man könnte meinen, Blondel ordne die Objektivität der Erkenntnis einer Glaubenswahrheit unter. Dem ist jedoch nicht so. Denn die Objektivität unserer natürlichen Erkenntnis steht vor unserer Entscheidung, erst recht vor jeglichem Glaubensakt fest. Daran wird nichts geändert, wenn aus einer andern Quelle, der des Glaubens, eine tiefere Begründung für die Tatsächlichkeit unserer subjektiven und objektiven Erkenntnis im Blondelschen Sinn gewonnen wird. Der "Panchristismus" Blondels will nicht als zwingendes philosophisches Argument verstanden werden. Er stellt mehr eine philosophische Reflexion dar angesichts des paulinischen Wortes "Omnia in Ipso constant"17.

In all den bisherigen Analysen der Action war nur von Notwendigkeiten innerhalb des Denkens und der faktischen Existenz die Rede. Wie verwandelt sich diese rein phänomenologische Notwendigkeit in eine reale, so daß sie zu seiner regelnden Norm für das Tun wird? "Was dem Denken nicht immanent sein kann, können wir nicht umhin, bestrebt zu sein, durch das praktische Tun uns immanent zu machen" (L'Action, 462). Damit schließt sich der Kreis der Dialektik. "Wenn alle Voraussetzungen des Denkens und der faktischen Exi-

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stenz bestimmt sind, wenn der ganze Inhalt des Lebens im Bewußtsein reintegriert ist, muß man wohl oder übel denken, daß das alles wirklich ist; deshalb müssen wir so tun als sei es wirklich" (ebd., 462). Wenn das theoretische Erkennen die Wirklichkeit nicht von einer dauernden Illusion unfehlbar zu unterscheiden vermag, so ist das praktische Leben sicher. "Indem es tut, als sei es wirklich, besitzt es allein, was ist, wenn es wirklich ist" (ebd., 463). "Man kann das Problem des Lebens nicht lösen, ohne zu leben; und nie etwas sagen oder beweisen, dispensiert uns nicht, etwas zu tun und zu sein. Damit ist also wissenschaftlich absolut die Rolle der faktischen Existenz (des Tuns) gerechtfertigt. Die Wissenschaft der Praxis stellt fest, daß man die Praxis nicht ersetzen kann" (ebd., 463).

Danach faßt Blondel zusammen: "Es ist eine Notwendigkeit, die Wahrheit der natürlichen Ordnung, der übernatürlichen Ordnung und des göttlichen Mittlers vorauszusetzen, der ihr Band und ihren inneren Bestand bewirkt. Ebenso ist es eine Notwendigkeit, die Bestätigung dafür nirgendwo anders finden zu können als im tatsächlichen Leben, noch auch umgehen zu können, ihr dort zu begegnen. Setzen wir voraus, die faktische Existenz habe sie uns gegeben. Dann ist auch das letzte Glied der Kette vollkommen geknüpft. Die beiden Enden mußten verbunden sein, jetzt sind sie es; die Notwendigkeit des totalen Determinismus mußte in einem freien Willensakt gesammelt sein, sie ist es jetzt ganz; die Mittlerrolle der faktischen Existenz mußte absolut gerechtfertigt und begründet sein, auch das ist geschehen; diese Vermittlung mußte zu einem Grund der Einheit und der Unterscheidung werden, was sie tatsächlich ist: wir sind Seiende im Sein. Die Erscheinungen selbst, die Zeit, alle flüchtigen Formen des individuellen Lebens gehen keineswegs unter, sie haben Teil an der absoluten Wahrheit der göttlichen Erkenntnis des Mittlers" (ebd., 462 f.).

Nochmals, damit wird keineswegs der Besitz des Seins vom ausdrücklichen christlichen Glauben abhängig gemacht. Die Entscheidung, die diesen Besitz vermittelt, das Sein in uns hineinverwirklicht, braucht sich nur auf eine verschwommene Wahrnehmung eines einzig Notwendigen stützen. Auch kann die Wahrheit erkannt werden, ohne daß Gott besessen wird.

Jedenfalls, sobald der Kreis der Dialektik der faktischen Existenz geschlossen ist, erscheint der ganze Determinismus, der als das Phänomen des menschlichen Willens im Denken in Erscheinung getreten war, von da ab zugleich als eine absolute Realität, die das Denken dem Willen auferlegt. So antwortet auf die Wahrheit des Primats der faktischen Existenz (... ) die große Aussage des gleichen Primats der, Wahrheit. (... ) Dieses Reich der Wahrheit ist ganz außerhalb von uns, nie wird es seines eisernen Szepters verlustig gehen; dieses Reich der Wahrheit ist aber auch ganz in uns, da wir seine despotischen Forderungen alle in uns selbst erzeugten" (ebd., 465).

Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, sich daran zu erinnern, daß Delbos verschiedentlich Blondel dahin beeinflussen wollte, seiner Action eine metaphysische Begründung zu geben. Blondel schreibt seinem Freunde: Ich glaube, daß die Idee der traditionellen Metaphysik, die sich bemüht, den gesamten Inhalt des Denkens und der Wirklichkeit zu umfassen, als Idee richtig ist. Ich

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glaube sogar, daß das Denken, wenn es sich auf seine eigenen Prinzipien gründet, ein geschlossenes System, ein integrales System bilden kann, und genau aus diesem Grunde habe ich nicht im Sinn von Symbolen, sondern von ganz bestimmten Forderungen die natürlichen Voraussetzungen des religiösen Lebens und den vollendeten Determinismus der faktischen Existenz bestimmt. Allein statt wie Du Schelling folgend, die Philosophie der Essenz und die Philosophie der Existenz nebeneinander zu setzen, versuche ich zu zeigen, daß sie sich überall decken und durchdringen, ohne zu verschmelzen und ohne sich irgendwo zu ersetzen. (... ) Wenn man sich darauf beschränkt, die Dialektik und die Praxis nebeneinander zu setzen, läßt man ein unableitbares und irrationales Element außerhalb der Metaphysik, was der Hypothese widerspricht; die einzige Weise, die integrale Metaphysik zu retten - die Du gerade erhalten willst, ohne das praktische Leben zu opfern - besteht darin, daß sie es durchdringt und daß sie nicht an dessen Stelle tritt' (Brief an Delbos vom 1. Oktober 1894). Trotz eines flüchtigen Zugeständnisses an Delbos, daß die Metaphysik auch in sich eine besondere Aufgabe habe, die er leicht geneigt sei zu vergessen, wird Blondel seine phänomenologische Auffassung von der Philosophie, die er in der Action von 1893 und in der Lettre von 1896 vertreten hat, noch lange Zeit verteidigen. Doch Delbos wird ihn weiter drängen, seiner Action einen metaphysischen Unterbau zu geben. Und Blondel wird sich schließlich überzeugen lassen, wie es die spekulative Philosophie seiner Trilogie beweist, die etwas ganz anderes ist als seine ursprüngliche Phänomenologie der faktischen Existenz. Man versteht allerdings dann, weshalb in der Trilogie die Behandlung der Seinsfrage des Schlußkapitels der Action dort ihren Sinn verliert.

Die Gottesidee

Blondel betrachtet die Gottesidee in seinen phänomenologischen Analysen nur unter einem ganz praktischen Aspekt. Indem er zeigt, daß dieser unvermeidlich im Bewußtsein auftauchende Gedanke uns zwingt, wenigstens implizite die lebendige Wirklichkeit dieser unendlichen Vollkommenheit anzuerkennen, geht es ihm nicht darum, daraus das Sein Gottes zu erschließen. Er wollte nur feststellen, daß diese notwendige Idee eines realen Gottes uns zur höchsten Alternative führt, von der es dann abhängen wird, ob Gott wirklich für uns ist oder nicht (vgl. L'Action, 426). Und zwar ist es richtig zu beachten, daß die Phänomenologie der faktischen Existenz vor dem Bewußtsein nicht nur die bloße Idee Gottes, sondern die ursprüngliche Anerkenntnis der Existenz Gottes in Erscheinung treten läßt. Das ist nicht verwunderlich, weil jener Determinismus, der das ganze Leben beherrscht, von Gott ausgeht, so daß jenes "einzig Notwendige" nichts anderes ist als das jedem Menschen auferlegte Geschick. Statt dieses Notwendige außerhalb des Kontingenten zu suchen, als wäre es ein weiteres Ziel, weist Blondel dieses "einzig Notwendige" als eine bereits gegenwärtige Wirklichkeit im Kontingenten selbst auf. Wir erfassen es somit nicht selbst in sich selbst, wo wir nicht sind; doch gehen wir von ihm in uns aus, wo

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es ist, um besser zu sehen, daß es ist, indem wir ein wenig verstehen, was es ist. Wir sind gezwungen, es anzuerkennen in dem Maß, als wir eine Idee davon haben; denn diese Idee selbst ist eine Wirklichkeit" (L'Action, 348). Blondel will also die Genesis der notwendigen Idee Gottes entfalten, um damit die implizite und spontane Anerkenntnis Gottes zu enthüllen. Die Rolle der Entscheidung ist dabei die, in uns das göttliche Wollen an die Stelle der Eigenliebe zu setzen (ebd., 354 f.). Blondel geht bei seinem Gottesbeweis vom faktisch Religiösen aus, von einer Ebene, auf der wir gezwungen sind, die Angleichung unserer eigenen faktischen Existenz mit dem Unendlichen zu suchen, was uns nie gelingt. Glaubt man, Gott genug zu kennen, so kennt man ihn überhaupt nicht mehr, weil die Idee, die wir von ihm haben, niemals identisch mit ihm sein kann. Wir müssen immer wieder weiterschreiten, immer wieder staunen vor dem Neuen, für das es keinen Ausdruck gibt. "Der lebendige Gedanke, den wir von ihm haben, bleibt nur lebendig, wenn er sich dem praktischen Leben zuwendet, wenn man aus ihm lebt und ihn mit dem praktischen Tun nährt" (ebd., 354). Darin besteht die wahre Transzendenz unseres Strebens, daß unser Wille von dem seinen erfüllt wird. Weil eben die Idee, die wir uns von Gott machen, nie Gott gleichkommt, sind wir gezwungen, eine Ergänzung dieser Idee in der lebendigen Existenz zu suchen. Das geschieht in der religiösen Entscheidung, durch die das Erkennen in den Besitz des Seins gelangt. Demnach unterscheidet Blondel zwei Weisen der Anerkenntnis Gottes, die erste, ursprüngliche und notwendige, die implizite jedem Menschen gegenwärtig ist, die zweite, freiwillige, die in der positiven religiösen Entscheidung eingeschlossen ist. Im Götzendienst der Heiden ist die erste Form der Gottesanerkenntnis eingeschlossen, ohne daß sie religiös fruchtbar würde.

Implizite Ontologie und entfaltete Ontologie
Das letzte Kapitel der Action kann als Reduplikation des vierten Teiles dieses Werkes verstanden werden. Doch stimmt das nicht ganz. Denn im vierten Teil haben die Worte Sein, Wirklichkeit keinerlei metaphysische Geltung. Das gilt selbst für die Entscheidung hinsichtlich des einzig Notwendigen. Und doch ist der vierte Teil implizite ontologisch relevant, auch wenn die darin entfalteten Aussagen auf phänomenologischer Ebene fallen. Im vierten Teil freilich ging es um das moralische und religiöse Problem unseres Seins; hier im Schlußkapitel geht es um das intellektuelle Problem des Seins; so daß erst hier die ontologische Frage zu ihrer ausdrücklichen Entfaltung gelangt, mag sie sich auf die keimhafte Ontologie in der Idee des einzig Notwendigen und der unvermeidlichen Alternative stützen. So versteht man, daß Blondel sein Werk ohne das Schlußkapitel der Sorbonne vorlegen konnte. Das Werk war auch so ein Ganzes, wenn dieses Ganze auch nicht formal entfaltet war.

Für Blondel bleibt immer maßgebend: "Sein und Leben sind für uns nicht in dem, was zu denken, zu glauben, nicht einmal zu praktizieren ist, sondern in dem, was tatsächlich praktiziert wird. Der Mensch und die Philosophie müssen, wenn man so sagen darf, dezentriert werden, um dieses vitale Zentrum dahin zu verlegen, wo es tatsächlich ist, nicht in den positiven Erkenntnissen oder im Sinnenleben, nicht in den intellektuellen Spekulationen, nicht in den moralischen Vorschriften, sondern in der faktischen Existenz (der tatsächlichen Einwirklichung); denn durch sie fällt faktisch und zwangsläufig die Entscheidung in der Frage der Beziehungen des Menschen zu Gott" (L'Action [Exemplar der These] 426 f.).

Das ist sozusagen eine Zusammenfassung des vierten Teiles, die darauf verzichtet, ihre Implizite Ontologie ausdrücklich werden zu lassen. In der späteren Fassung kommt eine explizite Ontologie zum Austrag: "Doch vermag man der Wissenschaft jene neutrale Zone, in der der Friede herrschen soll, nur dann zu erobern, wenn man den geheimen Grund der Teilungen vorbehält, wenn man es versteht, die objektive Existenz nur dort zu suchen, wo sie sein kann, wenn man das Sein nur dort findet, wo es ist. Die notwendige Erkenntnis der Wahrheit ist immer nur ein Mittel, den Besitz der Wirklichkeit zu erwerben oder zu verlieren. Obwohl diese objektive Erkenntnis mit ihrem Objekt identisch sein soll, besteht dennoch zwischen ihr und ihm der ganze Unterschied, der Besitz und Verlust trennen kann. Sein und Erkennen sind somit auf diese Weise ebenso verschieden und ebenso ähnlich wie nur möglich. Und die objektive Existenz besteht in dem, was in dieser notwendigen Identität freiwillig angenommen werden kann und soll, um die willentliche Identität zu konstituieren. Die Realität der erkannten Objekte gründet somit nicht in einer Art unterliegendem Doppel, nicht in der notwendigen Form ihres Phänomens; sie gründet in dem, was uns eine unvermeidliche Entscheidung auferlegt; sie realisiert sich in der vermittelnden tatsächlichen Einwirklichung (faktischen Existenz), die ihr verleiht, das zu sein, was sie scheinen. (...) Die Dinge sind somit alle der großen und entscheidenden Frage des Gebrauches des Lebens untergeordnet. Ihr Seinsgrund liegt darin, für uns dieses Problem auszulösen; und in der Lösung des Problems finden sie ihren Seinsgrund. Omnia propter unum. Die Metaphysik ist kontrovers, doch nicht kontroversfähig (controversable). Sie ist es, weil die Wissenschaft vom Sein, ohne vom Willen dessen, was ist, abhängig zu sein, doch mit ihm solidarisch ist. Darin liegt ihre Originalität" (L'Action, Buchhandelsausgabe 486f.).

So macht die Metaphysik in der zweiten Potenz für sich jene Ontologie explizit, die die entscheidende Frage des menschlichen Schicksals in sich, implizierte, nämlich die der unvermeidlichen Entscheidung vor dem einzig Notwendigen. In diesem Sinn beginnt die Ontologie der alten Action sogar längst vor ihrem vierten Teil. Die fortschreitend herausgearbeitete Seinsaussage entfaltet lediglich nach einem dialektischen Verfahren, was schon virtuell in dem sehr verschwommenen Geständnis bei der Kritik des Pessimismus eingeschlossen war: "Es gibt doch etwas." Wie die Logik Hegels entfaltet die Action die Idee des Seins, von der unbestimmtesten Gestalt bis zur Gestalt des Absoluten.

Diese Entfaltung bleibt von Anfang bis Ende phänomenologisch. Das heißt, daß selbst wenn das menschliche Denken auf das Absolute verweist, es menschliches Denken und nicht absolutes Wissen ist.

[Seite 252 - Robert Scherer]

Autonome Philosophie als christliche Philosophie

Blondel suchte schon sehr früh nach einer dem Evangelium immanenten Philosophie, die gleich weit entfernt wäre von der aristotelischen Philosophie, die das praktische Leben zugunsten des Denkens vernachlässigt und von der kantischen Philosophie, die das Praktische über das Denken stellt. Er sah in Christus den Mittler zur Lösung des Problems der Immanenz und der Transzendenz. Er wollte gern eine Erfahrungsmetaphysik und eine moralische Einweihung in den Glauben ... eine philosophische Apologie des Christentums' ausarbeiten. In all diesen frühen Auslassungen ist der religiöse Akzent stärker als der philosophische und erinnert an seinen Lehrer Ollé-Laprune, dem er viel verdankte, an dessen Werken er später die unzulängliche philosophische Durchdringung kritisierte. Nach und nach wird bei Blondel der Gedanke einer autonomen Philosophie immer klarer, auch wenn diese autonome Philosophie sich das Recht vorbehält, nicht vor dem Phänomen des Religiösen oder gar des Christlichen Halt zu machen.

Er wollte eine Philosophie entwickeln, die bis zum Ende Philosophie bliebe und zusätzlich Apologetik wäre, integrale Philosophie und christliche Philosophie. Zwar wurde er durch die im Zusammenhang mit der Modernismuskrise anläßlich seiner Lettre ausgelösten Kontroversen von seiner streng philosophischen Aufgabe lange Zeit abgelenkt, dadurch daß er sich mit den Theologen über die Natur der Apologetik auseinandersetzen mußte, wobei er seine philosophische Reflexion in den Dienst des Theologen stellte. Seine philosophischen Freunde und die Kritik Bréhiers führten ihn zu seiner eigentlichen philosophischen Aufgabe zurück. Blondel selbst hat in seiner Lettre die Frage so formuliert: Die Dinge liegen so, daß man als Philosoph, ohne aufzuhören, Christ zu sein und als Christ, ohne aufzuhören Philosoph zu sein, nicht mehr das Recht hat, heimlich von seinem Glauben auszugehen, um so zu tun, als gelange man so zu ihm, aber auch nicht mehr die Möglichkeit hat, seinen Glauben diskret aus seinem eigenen Denken auszuschließen" (Lettre, 53). In seinem Artikel L'Illsion idéaliste umreißt Blondel die Problematik so: "Man muß für sich selbst den Punkt, von dem man ausgegangen ist, bestätigen, indem man aus diesem Ausgangspunkt einen Zielpunkt macht. Das ist übrigens das einzige Mittel, andere dahin zu führen, indem man sich zunächst auf den Standpunkt ihres Denkens stellt, um sie gemäß der Kette des intellektuellen Determinismus dahin zu führen, wo sie sind"18. Diese Methode hat Blondel in der alten Action angewandt, indem er, vom Christentum ausgehend, gleichwohl eine streng autonome Philosophie entwickelte, die geeignet sein könnte, andere zum Christentum zu führen. Das geschieht so, daß der Glaubensstandpunkt eingeklammert wird. An dessen Stelle wird seine Verneinung in den verschiedensten Formen des Unglaubens als Ausgangspunkt gewählt, wobei angesichts der unausweichlichen Faktizität der Existenz und ihrer inneren Logik bei jeder neuen Stufe der Verneinung genau das, was sie ausschließen möchte, als

[Der philosophische Weg Maurice Blondels - 253]

notwendig aufgewiesen wird. Dieser Prozeß ist streng philosophisch und überzeugt auch den Nichtgläubigen. Von Anfang an und im Laufe des ganzen Werkes (L'Action) habe ich stets ein indirektes und negatives Verfahren angewandt, indem ich alle Lösungen untersuchte, die nur unter dem doppelten Zwang einer gebieterischen Logik und einer Lebensforderung ausgeschieden wurden; ich habe mich also stets gegen die Schlußfolgerungen stark gemacht, zu denen ich zwangsläufig gelangte"19. "Ich untersuche somit die ganze Mannigfaltigkeit an möglichen Versuchen, dem auszuweichen, was Sie mein heimliches Postulat (das Unendliche wollen) nennen; ich versuche, es mit allen Kräften zu ignorieren und zu unterdrücken; ich erfinde neue Scharfsinnigkeiten, um ihm auszuweichen... Doch entspringt aus all diesen Versuchen nur ein System miteinander verknüpfter Aussagen, die uns nach und nach dahin bringen, vor dem reflexen Denken und vor der Entscheidung des Willens eben das zu setzen, was schon im Ursprung der Bewegung gegenwärtig war, mit der man davor floh"20. In all diesen Bemühungen geht es Blondel darum, den Anspruch all dieser Versuche zu widerlegen, das Wollen des Menschen auf das Feld seiner Tätigkeit zu beschränken.

Anders als bei der Frage der Widerlegung des Idealismus weiß Blondel, daß der christliche Glaube nicht der notwendige Schluß einer Dialektik sein kann. Er kann mit seiner Dialektik nur bis zur Schwelle des Glaubens gelangen. Wenn also Blondels Philosophie sich innerhalb der Hypothese der Wahrheit des Christentums bewegt, so geht sie nicht von dieser Wahrheit als einer Voraussetzung aus. Wenn sie auch den Menschen für den Glauben reif machen will, überschreitet sie nie die Schwelle des Glaubens, sondern bleibt in den Grenzen der Philosophie.

Aus dieser Sorge um eine reine Philosophie versteht man, daß Blondel gegen den Gebrauch des Wortes >christliche Philosophie" war. Wenn es eine in seinem Sinn geben sollte, wäre sie erst zu schreiben. P. de Lubac hat dem folgenden Ausdruck gegeben: "Was die christliche Philosophie nach Blondel betrifft, so ist sie noch nicht christlich. Denn sie ist die Philosophie, die von sich in einer letzten Bemühung, die noch das Werk reiner Reflexion ist, feststellt, daß sie in sich nicht schlüssig ist. So ist sie eine Philosophie, die dem Christentum gegenüber offen sein wird, die aber de iure nicht von ihm ausgeht, weil sie aus ihm hervorgehen wollte, dies nur möglich wäre dadurch, daß sie ihm seinen übernatürlichen Charakter wegnähme und zwar in eben dem Augenblick, da sie diesen durch ihr letztes Eingeständnis proklamiert"21. Wenn Blondel auch nicht die Wahrheit des Christentums als Ausgangspunkt seiner Philosophie nimmt, so läßt er sich doch von den Lehren und Erfahrungen des Christentums inspirieren. Wenn er also sein philosophisches Denken nicht direkt von diesen christlichen Voraussetzungen ausgehen läßt, so stehen sie doch für ihn im Hintergrund seines Denkens eingeklammert, um wie in einem Experiment festzu-

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stellen, ob diese Wahrheiten der philosophischen Fragestellung standhalten. Dabei bleibt Blondel bewußt reiner Philosoph, gerade weil er die Wahrheit des Christentums im Sinn hat. Er geht soweit zu sagen, daß eine reine Philosophie erarbeiten dasselbe ist wie eine christliche Philosophie schreiben und belegt dies durch die Entwicklung der Geschichte der abendländischen Philosophie, insofern diese sich nach und nach gerade unter Verdrängung der christlichen Idee doch nicht ohne ihren Einfluß als reine Philosophie entwickelt hat. Die antike Philosophie hat die Vernunft vergöttlicht und ist so der faktischen Existenz nicht gerecht geworden. Das Mittelalter ist in Bezug auf das Verhältnis dieser antiken Philosophie zum Christentum nur zu einem vorläufigen Gleichgewicht gekommen, das nicht von Bestand war. Aber gerade weil die Scholastik der Vernunft den ungeheueren Horizont des Glaubens eröffnet hat, vermag diese menschliche Vernunft diese geahnte Welt nicht mehr zu vergessen. Sie kann auch nicht darauf verzichten, ein Äquivalent dafür zu finden. So hat sich die emanzipierte Philosophie nach und nach verwandelt, insofern sie sich unbewußt ein Ideal vorsetzt, das nicht aus ihr allein stammt (vgl. Lettre, 58). Er zeigt, wie diese Philosophie, die von der christlichen Idee durchtränkt ist, gegen die sie kämpft, nach und nach dahin kommt, ihre Tragweite einzuschränken, um schließlich auf ihre Hegemonie, wie sie das Denken des Aristoteles oder Spinozas forderte, zu verzichten. "Selbst die integrale Erkenntnis des Denkens und des Lebens ersetzt nicht das tatsächliche Denken und Leben' (ebd., 64). Blondel hat immer wieder betont, daß eine rein spekulative Philosophie außerstande sei, die Notwendigkeit der faktischen Existenz zu ersetzen. Er hat für den Katholizismus philosophisch etwas Ähnliches geleistet, wie das, was der deutsche Idealismus, namentlich Hegel, für den Protestantismus getan hat. Doch beschränkt er sich nicht auf eine Untersuchung des Christentums, er erfaßt philosophisch die gesamte Wirklichkeit des Denkens und der Existenz, sucht in ihnen den rationalen Leitfaden, der das Ganze durchwirkt.

Anmerkungen

1 Maurice Blondel - Auguste Valensin, Correspondance 1899-1912, 2 Bde. (1957); Au coeur de la crise moderniste. Le dossier inédit d'une controverse. Lettres de Maurice Blondel, Henri Bremond, Fr. von Hügel, Alfred Loisy, présentées par Rene Marlé (1960); Lettres philosophiques de Maurice Blondel … É. Boutroux, V. Delbos, L. Brunschvicg, J. Wehrlé, H. Bremond, E. Le Roy ... (1961).

2 Les premiers écrits de M. Blondel (Lettre sur les exigences de la pensée contemporaine en matière d'apologétique et sur la méthode de la philosophie dans l'étude du problème religieux, 1896; L'Illusion idéaliste, 1898; Principe élementaire d'une logique de la vie morale, 1903; Histoire et Dogme, 1904; De la valeur historique du dogme, 1905 (1956).

3 L'Action. Essai d'une critique de la vie et d'une science de la pratique, 1893 (1950).

4 So z. B. bei J. Benrubi, Philosophische Strömungen der Gegenwart in Frankreich (1928) S. 496-500.

5 Ueberweg, Geschichte der Philosophie V (1928) S. 64 f.

6 Die bedeutendsten davon sind Henri Duméry, La Philosophie de l'Action. Essai sur l'intellectualisnie blondélien (1948); ders., Blondel et la Religion. Essai critique sur la "Lettre" de 1896 (1954); Albert Cartier, Existence et Vérité. Philosophie blondélienne de l'Action et Problématique existentielle (1955); Peter Henrici, Hegel und Blondel. Eine Untersuchung über Form und Sinn der Dialektik in der "Phänomenologie des Geistes" und der ersten "Action" (1958); Henri Bouillard, Blondel et le Christianisme (1961).

7 Blondel et le Christianisme (1961).

8 De Vinculo substantiali et de substantia composita apud Leibnitium (1893).

9 Vgl. L'Itinéraire philosophique de Maurice Blondel. Propos recueillis par Fredéric Lefèvre (1928).

10 Brief Blondels an Lalande (1902) im Vocabulaire de la Société fran‡aise de Philosophie, 6. Aufl. 1951, S. 1230.

11 Annales de philosophie chrétienne, Bd. 151 u. 152 (1905-1906).

12 La Pensée, 2 Bde. 1934, dtsch.: Das Denken I, 1953, 11, 1956; L'Etre et les êtres, 1935; L'Action, 2 Bde., 1, 1936, 11, 1937; La Philosophie et l'Esprit chrétien, 2 Bde., I, 1944, II, 1946.

13 Exigences philosophiques du Christianisnie 1950, dtsch.: Philosophische Ansprüche des Christentums (1954).

14 Siehe Anm. 6.

15 Gemeint ist dessen Einleitung in "Maurice Blondel", hrsg. zusammen mit A. Valensin (1934).

16 Herausgegeben in den Études Blondéliennes 1, S. 102 (1952).

17 Der gleiche Gedanke spielt bei P. Teilhard de Chardin die gleiche zentrale Rolle. Es ist wenig bekannt, daß über den gemeinsamen Freund P. Auguste Valensin zwischen Blondel und Teilhard de Chardin echte geistige Beziehungen bestanden. Siehe Archives de Philosophie Janvier-Mars 1961.

18 In "Les premiers écrits de Maurice Blondel" (1956) Bd. II, S. 99.

19 Revue de Métaphysique et de Morale (1931) S. 604.

20 Une soutenance de thèse in Études Blondéliennes 1 (1951), S. 83.

21 Sur la Philosophie chrétienne, in La Nouvelle Revue théologique, März 1956, S. 254.

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    http://www.ub.uni-freiburg.de/referate/02/blondel/scherer-weg.htm
    Letzte Änderung: 15.03.2001