Orgelmusik der Postmoderne

Günter Berger 60 Jahre alt

von Albert Raffelt



Als Günter Berger (* 1929 in Oppeln) vor nunmehr mehr als 30 Jahren im oldenburgischen Raum auftrat, konnte man "Kirchenmusik als Neuheitserlebnis" erfahren: Improvisationen, die in ihrem Einfallsreichtum und in ihrer formalen Gekonntheit frappierten, eine ganz neue Farbigkeit des Orgelklangs. Gottesdienstgestaltungen mit liturgisch-kirchenmusikalischer Konsequenz, vielfach über Rundfunk und Fernsehen vorbereitet, ein Einsatz für qualitätvolle Werkorgeln u. a. m.

Aus der strengen Schule von Joseph Ahrens (Berlin) kommend (nach Studien bei Heinz Wunderlich in Halle), bei dem er 1955 das Staatsexamen für Kirchenmusik ablegte, hatte der junge Musiker bald mit einigen "Dogmen" gebrochen: das Erbe der Romantik war wieder lebendig, besonders die französische Orgelmusik wurde - damals pionierhaft eingebracht, eine große stilistische Unbefangenheit nach der Askese der Orgelbewegung, rhythmische Verve versus Statik ...

Der berufliche Weg führte über den kirchenmusikalischen Dienst an St. Marien, Delmenhorst, Lehraufträge, eine Dozentur für Improvisation und Künstlerisches Orgelspiel am Konservatorium in Bremen (1973) zur Professur für Orgel (Literatur und Improvisation) an der Hochschule für Künste der Freien Hansestadt Bremen.

Inzwischen liegt ein umfangreiches kompositorisches Werk vor, wobei die Orgel im Mittelpunkt steht und - mit einigen Seitenblicken - hier für das Ganze stehen kann, - das Werkverzeichnis zeigt die Breite des ganzen Oeuvre.

Das melodische Grundmaterial seiner Werke entnimmt Berger häufig dem gregorianischen Melos oder auch dem Kirchenlied.

Der ursprüngliche Werkstoff kann dabei unangetastet bleiben oder auf verschiedene Arten verfremdet werden. Ersteres etwa mit Einzug der tonalen Basis des c.f. (s. Werkverzeichnis am Schluß des Beitrages Nr. 4.7)


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oder durch Aufschichtung von Melodieteilen auf mehreren harmonischen Ebenen (4.7):


Der c.f. "flieht" vor sich selbst auf zwei harmonischen bzw. modalen Ebenen, wird aber durch Zusatztöne gebunden (4.4):


Die unverfremdete Melodie erhält eine schaukelnde Begleitfigur im 6/.-Takt, die gegen die Schwerpunkte angeht (4.12):


Beispiele für Verfremdungsverfahren sind etwa die Zerlegung einer im Baß (Ped.) melodisch unverfremdeten Choralmelodie durch Pausen, so daß die im Vierer-Takt sich hochschraubende Sequenzierung gegen den dominierenden Dreier-Rhythmus des Basses anzugehen hat (5.1):


Die Melodie wandert durch verschiedene Stimmlagen (vom Sopran zum Tenor, wiederum zum Sopran, dann zum Tenor und schließlich zum Baß. Dieser sogenannte durchbrochene Stil, ein Charakteristikum des Wiener klassischen Instrumentalsatzes, führt hier zu immer feinerer Aufsplitterung (5.2):


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Dichte Verschachtelung von Melodieteilen, quasi in Engführung, beständigem Taktwechsel mit tänzerischem Impetus, läßt die klangliche Vertikale nicht außer Acht (4.2):


Im nächsten Beispiel zeigt die rhythmische Umformung einer Melodie bei entsprechender Begleitakzentuierung die Ausformung zu einem Baiâo-Tanz (4.11):


Die Originalgestalt einer Choralmelodie, durch Pausen zerpflückt und gleichzeitige spiegelbildliche Sequenzierung des Melodiekopfes in Ausdünnung, d.h. Reduzierung auf Zweistimmigkeit ist ein weiteres Werkcharakteristikum (4.15):


Danach wieder eine quasi in Engführung gearbeitete Verschachtelung der Choralmelodie mit einer Klangvertikalen mit "französischem" Anklang. Das von Langlais geschätzte Werk ist dem Altmeister in Verbundenheit gewidmet (4.15):


Die Terzen- und Quartetüden von Debussy gaben den Anstoß zur choraltoccata Cum jubilo. Der gregorianische Choral tritt rhythmisch variiert und auch akzentverschoben auf. Die Melodie wandert dabei wieder in durchbrochenem Stil durch Manuale und Pedale (4.13):


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Die Inspiration für den Schaffensprozeß kommt einerseits aus innermusikalischen Vorgängen, anderseits aus dem Text. So wird die Sekundformung des Melodiekopfes von "Nun bitten wir den hl. Geist" zum bittenden Gestus in drängender Haltung, die zum virtuosen bitonalen Figurenwerk führt, schließlich zur Anfangshaltung zurückfindet (4.5):


Klangballungen bis zur Clusterverdichtung entwickeln sich stets aus der Summierung von Linien und Stimmen. Sie sind Ergebnis eines Prozesses, kein billiger Selbstzweck (4.12 - unserer Meinung nach das Orgelwerk Bergers):


Es liegt an der Thematik, wenn die Crucivixion (5.3) und die Apokalyptischen Sequenzen (5.5) dodekaphonische Klangtrauben, bewegt oder statisch, vermehrt einbeziehen. Gleich welche Kompositionstechnik angewendet wird, Melodien - tonal oder dodekaphonisch - werden nicht tabuisiert.

Auch im chorischen Bereich kommen Klangverdichtungen vor, gelegentlich sogar mit naturaistischem Gestus, wie beim dem Text "Preiset den Herrn, Wind und Sturm" (1.14):


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Das Stück entstand als Kompositionsauftrag der Hamburger Alsterspatzen für den Wettbewerb in Tours und brachte ihnen dort einen Preis ein.

Im gleichen Werk stehen kanonisch geführte Linien mit Querstandswirkungen und eingelagerten, aus der Improvisation heraus zu gestaltenden Tierimitationen, denen sich junge Chöre mit Begeisterung hingeben...


Weniger aufwendig angelegt sind die Europäischen Weihnachtslieder (2.6). Vertikale Klangwirkungen werden auf verblüffend einfache Weise erzeugt. Wenn Linien in sich schlüssig sind, sind auch Sekundreibungen für geschulte Chöre kein Problem.


Der Praktiker Berger schreibt dabei auch für einfache Verhältnisse (1.8), auch wenn mancher Konzertorganist darauf etwas herabschauen mag:



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Frappierend war schon am Anfang von Bergers Laufbahn der Improvisator. Inzwischen hat er auf wiederholte Nachfragen seine Erfahrungen in einen ImprovisationsIehrgang eingebracht, wenngleich er am liebsten am klingenden Beispiel lehrt.

Daß seit den 60er/70er Jahren - nach Vorgang der beispielhaften St.-Marien-Orgel in Delmenhorst (A. Führer) - eine große Anzahl von ihm mitgestalteter bzw. disponierter Orgeln steht (Cloppenburg, Vechta, Löningen, Damme, Bremen-Blumenthal, Arsten u.a.m.), ist ein weiteres Verdienst. Eine Reihe musterhafter "Orgelporträts" mit informativ-eindringlichen Textheften, häufig in Rezensionen prämiert, wurde so möglich.

Mitarbeit in der Gesellschaft der Orgelfreunde, als Juror und tätiger Organist und andere Verpflichtungen runden den Umkreis seiner Arbeit. Als Schüler der "ersten Stunde" wünscht man dem so imposant gewachsenen Werk weite Verbreitung und dem "Jubilar" ad multos annos ...

Werkverzeichnis (Auswahl)

Kompositionen, Bearbeitungen, Diskographie in Auswahl (im Eigenverlag oder als Manuskript)

1. Liturgische / gottesdienstliche Werke

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2. Arbeiten für den Kindergottesdienst

3. Sonstige Werke für Ensembles

4. Orgelwerke

5. Orgel und andere Instrumente

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6. Orgelbearbeitungen/-ausgaben

7 Unterrichtswerke

8. Schallplatteneinspielungen

- Vgl. hierzu auch 2.2 und 2.4


http://www.ub.uni-freiburg.de/referate/04/raffelt/berger-postmoderne.html

Letzte Änderung: 20.07.2000