Adolf Lasson: Jahresbericht über Erscheinungen
der philosophischen Literatur in Frankreich
aus den Jahren 1891-1893. [Ausschnitt: Rezension von M. Blondel: L'action (1893)


[...] Um die Frage nach Sinn und Bedeutung des Menschenlebens zu beantworten, geht der Verfasser von der Tat als dem Grundphänomen des Lebens aus und zergliedert ihre Voraussetzungen und ihre Ziele. Er zeigt, daß um tätig zu sein man an einem unendlichen Vermögen teilhaben, und um das Bewußtsein der Tätigkeit zu haben, man die Idee dieses unendlichen Vermögens besitzen muß. In dem vernünftigen Handeln liegt die Synthese des Vermögens und der Idee des Unendlichen, und diese Synthese heißt Freiheit. Dem Satze: Im Anfang war die Tat, entspricht mit gleicher Ursprünglichkeit die Bejahung des Satzes: Im Anfang war das Wort. Dieses Reich der Wahrheit liegt gänzlich außer uns, und niemals wird ihm sein eisernes Szepter entwunden werden können; aber ebenswo liegt es ganz in uns, weil wir alle seine gebieterischen Anforderungen in uns selbst vollziehen. Nichts von Tyrannei liegt in der Bestimmung des Menschen; nichts Ungewolltes in seinem Wesen; nichts in der wahrhaft objektiven Erkenntnis, was nicht aus der Tiefe des Gedanken entspränge. Das ist die Lösung des Problems, das die Tat aufgibt. Darin liegt die feste Knüpfung des Knotens, in dem exakte Wissenschaft, Metaphysik und Moral sich verschlingen. Aus der geringsten unserer Handlungen, aus der Unscheinbarkeit unter den Tatsachen braucht man nur herauszuholen, was darin liegt, um der unentrinnbaren Gegenwärtigkeit nicht einer bloßen abstrakten obersten Ursache, sondern des einzigen Urhebers und wahren Vollenders aller konkreten Realität gewiß zu werden. - Diesem Nachweis ist das Buch gewidmet. Dazu widerlegt der Verfasser zunächst alle positivistischen, naturalistischen, materialistischen Anschauungen als unverträglich mit der Tatsache der Tat; dazu zeigt er in Leib und Seele das Göttliche, Geistige, zeigt er den Zusammenh ang der vernunftbegabten Geister unter einander, die ewigen idealen Grundlagen von Familie, Vaterland, Menschheit auf, geht er die niederen Formen der natürlichen Moral mit ihren endlichen Zwecken und Motiven als eine Stufenfolge sich immer weiter treibender Einseitigkeiten durch, legt er da, wie der Zusammenhang mit dem Unendlichen, dem Absoluten im dämmernden Bewußtsein sich in superstitiösen Gebräuchen und Formeln darstellt, bis der Geist sich selbst gewinnt und sein transzendentes Wesen ihm in hellem Bewußtsein aufgeht. Dann wird uns Gott gegenwärtig als das, was wir selbst nicht werden noch bloß mit unseren Kräften machen können, und doch scheinen wir Wesen, Willen und Tätigkeit nur zu haben, sofern wir ihn wollen und werden wie er ist. In der gewollten Tat vollzieht sich die geheime Ehe des menschlichen und des göttlichen Willens. Zum Leben der Vernunft und der Freiheit berufen sein, heißt an der notwendigen Freiheit Gottes teilhaben, der nicht anders kann als sich wollen. So können auch wir nicht anders als uns wollen. Nichts ist absolut gut, absolut gewollt, als was wir nicht aus uns wollen, was Gott in uns und von uns will, eine Unterwürfigkeit, die ebensosehr Unabhängigkeit ist. Wenn wir in diesem freien Wesensaustausch erkennen, daß Gott alles in uns tut, aber durch uns und mit uns, dann gibt er es uns, daß wir das alles getan haben. Wenn wir es entgegennehmen, daß er in uns wird, was er an sich ist, dann erlangen wir es, daß wir selbst sind, was er selbst ist. Was dem Gedanken unerreichbar bleibt, wird zur Wirklichkeit in tätiger Übung. Nur zwischen den Willen ist diese Einigung möglich. Nur der Tat ist es gewährt, die Liebe kund zu tun und Gott zu erringen.

Man mag aus diesen Proben, da uns mehr Raum nicht vergönnt ist, auf Stimmung und Gesinnung des Verfassers und auch auf die Form seiner Darstellung schließen. Nur denke man nicht an ein Erbauungsbuch. Wir haben es mit einer gründlichen, ernsten philosophischen Gedankenarbeit zu tun, mit einer oft bewunderungswürdigen Kunst der Analyse, die mehr dialektisch als psychologisch, mit echtem Tiefsinn den Kern der Sache trifft. Die Form ist für einen deutschen Leser nicht unmittelbar anmutend, vielfach rhetorisch, wohl auch gekünstelt; man wird an St. Augustinus und St. Bernhard erinnert. Oft aber wirkt sie hinreissend, und die Worte dringen eben so tief ein wie die Gedanken. Es werden wenig Namen genannt, und selten kommen Anführungen vor: aber überall zeigt sich eine umfassende Belesenheit und reiche Kenntnis des Lebens wie der Wissenschaft. Haben wir es mit einem jungen Manne zu tun, - wir wissen nicht, wo uns der Verfasser sonst begegnet wäre, - so müssen wir ein großes Talent freudig begrüßen. Wir würden für die gleiche Untersuchung einen anderen Ausgangspunkt wählen: die Idee des Guten, den Zweck und die Freiheit scheint es uns angemessener, aus den Prinzipien der Erkenntnis abzuleiten. Immerhin ist es ein genial entworfener und ausgeführter Plan, wie dieser Gegner des Intellektualismus sich den gesamten idealen Gehalt des Weltalls aus der Zergliederung der menschlichen Tätigkeit gewinnt. Natürlich geht es auch so. Denn menschliche Tat ist die Tat eines logisch denkenden Wesens, und die Zergliederung der Tat wird mit den Hilfsmitteln des logischen Gedankens vollzogen. Praktische Vernunft und theoretische Vernunft, Wollen und Denken, sind nicht getrennt und nicht trennbar, und die Macht des Allgemeinen, des Identischen, der Idee ist überall, wo Vernunft ist. Über einzelne Ausführungen möchten wir mit dem Verfasser hadern, in der Hauptsache halten wir sein heißes Bemühen für gelungen. Dieses Buch ist nicht bloß mit dem Kopfe, sondern auch mit dem Herzen geschrieben. Was der Verfasser sagt, das wissen nur die Eingeweihten zu fühlen, zu denken und zu sagen. Zum christlichen Dogma sich gläubig und frei zugleich zu verhalten; auf den Geist und doch auch auf den Buchstaben zu dringen; nach reiner, voraussetzungsloser Erkenntnis zu streben und kindlich zu glauben; im Drucke des Sündenbewußtseins den hohen göttlichen Adel der Seele, im tiefsten Gefühl des Erdenleides den Himmel und die Ewigkeit präsent zu haben; in scharf ausgeprägtem Antinomismus das sittliche Leben als gesetzesfreie Bewährung der Eigentümlichkeit und Hingeb ung an das Absolute zu fassen und zugleich im Tode der Eigenheit das Aufgehen des wahren Lebens zu begrüßen: das alles vermag der Verfasser nur, weil er es erlebt, nicht bloß mit ausgezeichneter Kraft des Gedankens erfaßt hat. Das Theologische im engeren Sinne bleibt in dem ganzen Buche außer dem Spiele; selbst seine Christologie deutet der Verfasser nur gelegentlich an (p. 461). Daß das Buch, bei dem man unbeschadet seiner Originalität an J. G. Fichte und an Hegel erinnert wird, im heutigen Frankreich geschrieben werden konnte, ist eine sehr merkwürdige Tatsache; sollte es sich dort Zustimmung und Wirksamkeit gewinnen können, so würden wir zugestehen, daß in der Philosophie wenigstens manches in Frankreich besser steht als bei uns. Wir scheinen nun einmal auf die physiologische Psychologie eingeschworen zu sein, und unsere Armut und unser Unvermögen wächst von Jahr zu Jahr.