ZWEITES KAPITEL

JOHANNES B. LOTZ

§ 1. Der Ausgangspunkt

Wie J. Maréchal, so hat auch J. B. Lotz einen transzendentalen Ausgangspunkt des Philosophierens gewählt. Das "factum primordiale" sei die "unio inter subiectum et obiectum in actu cognitionis humane", da diese die unmittelbare phänomenologische Ausgangsgegebenheit für die Reflexion über unser Erkennen sei (1).

Wenigstens aus seinen Hauptwerken geht eindeutig hervor, daß dieser transzendentale Ausgangspunkt das Urteil zu sein hat. Besonders gegenüber M. Heidegger und J. de Vries hat Lotz versucht, das Urteil als den eigentlichen Ort der Wahrheit zu verteidigen, wo das Seiende in seinem Sein hervortritt bzw. gesetzt wird. Nur von hierher könne sich der transzendentale Rückgang auf das subsistierende Sein als die letzte Möglichkeitsbedingung der Erkenntnis (wie den letzten Grund des Seienden) eröffnen (2).

Im Unterschied zu J. Maréchal hat J. B. Lotz das Ausgangsfaktum nicht immer einer gleich kritischen Reflexion unterzogen. In Das Urteil und das Sein geht Lotz einfach "von der Tatsache des urteilenden Erkennens" (3) aus. Die Berechtigung zu urteilen scheint dabei vorausgesetzt. Diesen faktischen Ausgangspunkt der Überlegungen hat Lotz vor allem in seiner Erwiderung auf die Vorwürfe G. Siewerths noch einmal unterstrichen:

"Meine Untersuchung ... setzt bei dem ursprünglichen Seinsverständnis mit seiner ganzen Fülle, wie es dem alltäglichen Urteil innewohnt, an" (4).

Hier hat nun die oben (5) zitierte Bemerkung E. Coreths ihr Recht, das Urteil sei kein fragloser Anfang (einer kritischen Philosophie). Es müsse sich selbst noch einmal darauf befragen lassen, woher das im Urteil behauptete Wissen stamme und mit welchem Recht es im Urteil absolut gültig gesetzt werde (6).

In einem Beitrag aus jüngster Zeit gibt Lotz zur Grundlegung eines Gottesbeweises in kurzen Umrissen eine transzendentale Analyse der Frage - nicht

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des Urteils - auf ihre Möglichkeitsbedingungen hin (7). Darf man daraus entnehmen, daß Lotz hiermit dem kritischen Einwand Coreths stattgeben will (8)?

Anders verhält es sich in dem Werk Metaphysica operationis humanae. Lotz versucht hier die absolute Geltung des Urteilens als Ausgangspunkt einer transzendentalen und kritischen Philosophie sicherzustellen: erstens durch den Verweis auf die Ergebnisse der Erkenntniskritik, zweitens durch Hinweis auf unzweifelbare Erfahrung, drittens durch Retorsion des Zweifels bzw. der Negation auf die in ihnen vollzogene Setzung einer absoluten Geltung (9).

Lotz spricht in diesem Zusammenhang von der "absoluten Geltung" des Urteils, nicht nur von dem Anspruch auf absolute Geltung, der im Urteilen enthalten ist. Da diese Ausführungen aber vor dem Beweis für das "esse subsistens" (10) stehen, werden folgende, zu Eingang des Buches gemachte Aussagen probleniatisch:

"... apparet, hominem esse imaginem Dei; quod iam philosophice (non tantum theologice) stricte sumendum est, quia secus valor cognitionis humanae obiectivus ultimatim declarari omnino non potest ... valor enim obiectivus cognitionis humanae ultimatim intellectum absolutum supponit" (11).

Wenn hiernach die objektive Geltung unserer Erkenntnis letztlich nur durch die Existenz Gottes bzw. eines "absoluten Intellekts" gesichert ist, wie kann dann eine Erkenntnis der "absoluten Geltung" unserer Urteile bestehen, bevor Klarheit über die Existenz Gottes gewonnen ist, wie die absolute Geltung unserer Urteilssetzung zu den Voraussetzungen des Aufweises für die Existenz des "esse subsistens" gehören (12)?

Zu den einzelnen Argunienten selbst.

ad I: "Primo critica, inquantum ipsa scepticismum et relativismum reiicit, valorem absolutum iudicii nostri iustificat" (13).

"Prima iustificatio, quam critica dat, valorem absolutum ex eo explicat, quod res ita est, uti ipsa in iudicio exprimitur, nec simul aliter esse potest. Quo factum huius valoris sufficienter fundatur" (14).

Zum Verhältnis von Erkenntnismetaphysik und Erkenntniskritik hatte Lotz schon an früherer Stelle gesagt:

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"Terminus-a-quo est factum primordiale cognitionis humanae ... , cuius valor simpliciter obiectivus ... a theoria cognitionis critica primo iustificatus ... supponitur" (15).

Die Wissenschaft der Erkenntniskritik - welche die objektive Geltung der Erkenntnis rechtfertige, ohne nach ihrer ontischen Beschaffenheit bzw. ihrem Wesen zu fragen (16) - werde einerseits vorausgesetzt, andererseits erfahre sie durch die Erkenntnismetaphysik eine Bereicherung.

"Quoad criticam patet, valorem cognitionis humanae ultima explicatione plenius quam prima iustificatione intelligi. Iustificatio autem et nova ex ultimis radicibus luce illustrata et novis fundamentis fulcita etiam firmitite crescit" (17).

Es ist nicht leicht zu verstehen, welche Bedeutung diese "erste Rechtfertigung" der Erkenntnis durch die Erkenntniskritik für den Lotzschen Ansatz gewinnt. Soll diese "suppositio" besagen, daß ohne die durch eine vorgängige Erkenntniskritik gesicherte Geltung des zum Ausgangspunkt gewählten Aktes das gesamte transzendentale Vorgehen zu keiner notwendigen Einsicht führt?

Dann erhebt sich einmal die Frage, welchen Wert eine Rechtfertigung für die metaphysische Spekulation haben kann, die ohne Blick auf die "indoles ontica" und "natura cognitionis" (18) erstellt wurde. Die "prima philosophia" darf doch nicht wieder einzelwissenschaftliche Ergebnisse voraussetzen (19). Wie kann eine Wissenschaft, die nicht nach dem Sein des Seienden fragt, eine Auskunft über das Sein einer Sache geben ("quod res ita est")?

Zum anderen fragt man sich nach der Bedeutung einer Geltungssicherung, die noch nicht "voll erkannt" ist und deren "Festigkeit" noch "wachsen" soll (20). Welche Erkenntniskritik ist überdies gemeint? Diese Frage ist doch bei dem Wirrwarr an scholastischen Lehrmeinungen auf diesem Gebiet nur zu berechtigt.

ad II: "Secundo idem experientia immediata indubitabilis ostendit; nam iure cum valore absoluto iudicia enuntiamus, non solum de actibus internis (v. g. ego intelligo, ego volo), sed etiam saepissime de rebus externis (v. g. Petrus est homo)" (21).

Daß die tatsächliche Erfahrung des Absolutheitscharakters unserer Urteilssetzung "de iure" sei, bleibt eine noch nicht gerechtfertigte Behauptung. Wenn zudem die absolute Geltung unseren Urteilen über Dinge der Außenwelt nur "sehr häufig" zukommt, dann bleibt das einzelne Urteil so lange Gegenstand möglichen Zweifels, bis es kritisch gesichert ist.

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Die zweifelsfreie Gewißheit der inneren Akte einmal angenommen: Wie kommt man von hier aber zu einer Metaphysik? Lotz jedenfalls nimmt nicht ein solches Urteil zum Ausgang seiner Untersuchung:

"Initium nostrae inquisitionis iudicium singulare de rebus externis esse debet, quia structura iudicii de actibus internis, quae ... essentialiter derivata est, tantum ex structura iudicii de rebus externis primigenea intelligi potest" (22).

ad III: "Tertio valorem absolutum evitare omnino non possumus, nam negantes vel in dubium vocantes valorem absolutum necessario iterum talem valorem ponimus, quatenus saltem negationi vel dubitationi nostrae valorem absolutum tribuimus; quod si nolumus, processum in infinitum incurrimus, qui omnem omnino cognitionem tollit ideoque ut impossibilis ab exercitio vitae perpetuo refutatur" (23).

Mit dieser retorsiven Argumentation ist nur der dem Denken notwendig implizite Anspruch auf absolute Geltung aufgewiesen, aber noch nichts für die Geltung irgendeines Urteils selbst gewonnen (wie sich ja leicht gerade an der Behauptung des Skeptikers zeigen läßt). Daß ein Anspruch auf absolute Geltung zu Recht besteht, läßt sich nur von der Sache, nie von der Setzung allein her begründen (24).

Es bleiben also zwei Möglichkeiten. Entweder versteht Lotz seinen Ausgangspunkt ähnlich wie Maréchal: Die im Denken nicht zu umgehende Urteilssetzung in ihrem absoluten Anspruch wird auf ihre Möglichkeitsbedingungen hin befragt.

Oder aber er geht von einer absoluten Affirmation aus, die ihre Berechtigung aus der Einsicht in den Sachverhalt bezieht. Dann hängt alles nicht von der "Setzung" des Urteilenden und ihrem Anspruch auf Absolutheit, sondern von der zugrunde liegenden Evidenz ab. Diese selbst, also die sich zeigende Sache hat alleiniger Gegenstand der Betrachtung zu sein, ob sie der Garant für die absolute Setzung ist oder nicht. Die Setzung als solche zeigt nur den Anspruch, nichts aber bezüglich ihrer Legitimität her.

ANMERKUNGEN

10 Metaphysica 7, vgl. Seinsproblematik u. Gottesbeweis: Gott in Welt I 141; Ontologia 10, 41.

2 S. hierzu Abschn. 2, Kap. 3, § 2,3 unserer Untersuchung.

3 Urteil und Sein 170.

4 Scholastische Urteilslehre 553; vgl. 551, 558 f.; Ontologia 41.

5 S. S. 45 f.

6 Metaphysik 83.

7 Seinsproblematik und Gottesbeweis 14.

8 Früher schien Lotz der Frage keine so große Bedeutung im Hinblick auf den Ausgang der Erkenntnismetaphysik beizumessen, vgl. Urteil und Sein 65. - Auch W. Brugger hat - sonst ähnlich wie J. B. Lotz bei der Analyse des Urteils ansetzend - nach dem Erscheinen des Corethschen Werkes eine Art Gottesbeweis in einer Analyse des Fragevollzugs versucht: Der Mensch, das fragende Wesen, in: Epimeleia 19-29.

9 Metaphysica 98.

10 Ebd. 102 ff.

11 Ebd. 6.

12 Vgl. ebd. 107.

13 Ebd. 98.

14 Ebd. 99.

15 Ebd. 10 f.

16 Vgl. ebd. 4.

17 Ebd. 6.

18 Vgl. ebd. 4.

19 So macht sich auch J. de Vries bei der Frage nach einem "überzeugenden Zugang zur Metaphysik" den Einwand: "Ist nicht die Metaphysik die 'erste Philosophie', die Grundwissenschaft schlechthin? Kann es zu ihr einen Zugang, sozusagen von außen her, geben? - ... Einen nichtmetaphysischen Zugang zur Metaphysik kann es tatsächlich nicht geben" (Der Zugang zur Metaphysik 481). Wenn Lotz (Ontologia 10) selbst sagt: "... critica quoque disciplina metaphysica est et vocari potest methaphysica fundamentalis vel ontologia fundamentalis, quia ipsa enucleando cognitionem entis, possibilitatem metaphysicae fundat", dann fragt sich nur, wie sie dies nach der eben zitierten Bestimmung (Metaphysica 4) sein kann.

20 Vgl. Metaphysica 6.

21 Metaphysica 98.

22 Ebd. 37, vgl. Ontologia 47.

23 Metaphysica 98.

24 Die hier genannten drei Argumente finden sich auch: Ontologia 58. - Näheres zur Retorsion s. Abschn. 2, Kap. 1, § 3 dieser Untersuchung.


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