ZWEITES KAPITEL

DIE ABKÜNFTIGKEIT DES ZWEIFELS

§ 1. Die Evidenz der Idee der Wahrheit als Möglichkeitsbedingung des Zweifels

1.1 Vorbemerkungen zum Begriff einer ersten Evidenz

Ausgehend von der Einsicht in die Notwendigkeit einer Geltungsreflexion, haben wir verschiedene Weisen ihrer Durchführung betrachtet, ohne zur Begründung wirklich gültiger Bestimmung vorzustoßen. Nun impliziert die Einsicht in die Notwendigkeit einer "Geltungsreflexion", letztlich: des universalen methodischen Zweifels, eine Setzung, die in unseren bisherigen Überlegungen selbst noch nicht bedacht worden ist, die Behauptung nämlich, daß wegen der Faktizität' jedes philosophischen Ansatzes der Ansatz selbst zuerst einer Geltungsreflexion unterzogen werden müsse, bevor er vor dem philosophischen Bewußtsein gelten könne. Wir haben diese Behauptung vielmehr an den Anfang gestellt, ohne sie einer näheren Prüfung zu unterziehen (1). Lassen wir diese Behauptung jedoch unreflektiert stehen, so kommen wir gerade in bezug auf den eigenen Ausgang der aufgestellten Forderung nicht nach und sind damit vielleicht an dem entscheidendsten Punkt "unkritisch".

Aus der bloßen Feststellung der "Faktizität" jedes unmittelbaren Ausgangs, die (philosophisch gesehen: grob gesagt) etwa aufgrund einer induktiven Verallgemeinerung von faktisch eingetretenen "Falsifikationen" zuvor gemachter Ausgangssetzungen getroffen werden könnte, folgt noch nicht ohne weiteres die Notwendigkeit einer radikalen Geltungsreflexion. Daß aus dem faktischen Nebeneinander "wahrer" und "falscher" Behauptungen die Notwendigkeit einer bis auf einen absoluten Gültigkeitsgrund durchgeführten Reflexion gefolgert wird, dazu bedarf es einer besonderen Einsicht - nämlich der Evidenz der Idee der Wahrheit, wie weiter unten näher zu erörtern sein wird.

Wenn H. Wagner eine letzte Geltungsbegründung durch das Aufzeigen von Evidenz ablehnt (2), so übersieht er, daß die von ihm geforderte und durchgeführte Geltungsreflexion nur dann in ihrer Notwendigkeit einsichtig wird, wenn er die Evidenz der Idee einer absoluten Wahrheit voraussetzt. Wagner leitet dann zwar selbst aus der Absolutheit des Denkens

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die Idee der Wahrheit als das grundlegende Soll für die Selbstgestaltung des faktischen Denkens ab. Wenn er in diesem Zusammenhang aber nicht von der Evidenz spricht, in der sich dieses Sollen des Absoluten dem "erscheinenden" Denken notwendig vermittelt, so dürfte das darin seinen Grund haben, daß bei Wagner überhaupt das Verhältnis zwischen absolutem und erscheinendem Denken ungeklärt bleibt (3).

Die Notwendigkeit der Evidenz zur Sicherung eines absoluten Gültigkeitsbodens der Erkenntnis hat in der jüngeren Transzendentalphilosophie besonders E. Husserl hervorgehoben. Und zwar ist nach ihm zur absoluten Begründung wissenschaftlicher Erkenntnis "apodiktische Evidenz" gefordert, die über die Seinsgewißheit, die auch zu andersgearteten Evidenzen gehört, hinaus die ausgezeichnete Eigenheit (hat), daß sie nicht bloß überhaupt Seinsgewißheit der in ihr evidenten Sachen oder Sachverhalte ist, sondern sich durch eine kritische Reflexion zugleich als schlechthinnige Unausdenkbarkeit des Nichtseins derselben enthüllt; daß sie also im voraus jeden vorstellbaren Zweifel als gegenstandslos ausschließt" (4). Wie wir oben (5) sahen, ist nach Husserl in dem cartesianischen "cogito/sum" die grundlegend erste und apodiktische Evidenz gegeben.

So richtig diese Unterscheidung innerhalb möglicher Evidenzen auch ist, so ist doch festzustellen, daß Husserl selbst mit der "apodiktischen" Evidenz des "cogito/sum" nur im Bereich faktischer" Evidenzen verblieben ist - und insofern besteht der Einwurf Wagners zu Recht: Eine solche Evidenz kann nicht zur absoluten Geltungsbegründung ausreichen, da sie immer nur bis zum Aufweis einer faktischen (und durch keinen faktischen Vollzug überholbaren) Notwendigkeit gelangt, nicht aber bis zu einer "Einsicht aus Prinzipien" vorstößt (6).

Auch bei Husserl bleibt - wie bei H. Wagner - die Forderung nach einer radikalen Geltungsreflexion selbst unreflektiert, womit er sich der Möglichkeit begibt, die ursprünglichste Evidenz des Denkens selbst in den Blick zu bekommen. Seltsam ist, daß Husserl zu Eingang seiner ersten "Cartesianischen Meditation" zwar an dem (mathematischen) Wissenschaftsideal Descartes' Kritik übt, selbst aber - im Gegensatz zu Descartes - offenbar die (noch unbestimmte) Idee einer Wissenschaftsbegründung überhaupt voraussetzt, ohne sie auf die Bedingung ihrer Möglichkeit zu befragen (7).

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Descartes - der "Vater" aller neuzeitlichen Versuche einer systematischen Begründung gültiger Erkenntnis auf dem Wege des universalen Zweifels ist nicht bei der faktischen' Evidenz des "cogito/sum" stehengeblieben. Er hat den radikalen Zweifel selbst - den letzten Ort dieser unaufhebbaren Selbstgewißheit des Denkens - nicht unreflektiert stehengelassen, sondern ihn auf die Bedingung seiner Möglichkeit hin erhellt. Diesem Gedanken Descartes' wollen wir nun nachgehen, um von hierher die transzendentale Rückführung des Zweifels auf eine ursprünglichere Weise von Wahrheit vorzubereiten.

1.2 Die Evidenz der Wahrheitsidee bei Descartes

Die Bedeutung des Cartesischen Ansatzes für die streng transzendentale Wissenschaftsbegründung betont unter den zeitgenössischen Philosophen im deutschen Sprachraum besonders eindrücklich R. Lauth (8). Die bloß "faktische" Evidenz des "cogito/sum" sei bei Descartes noch einmal auf die letzte "genetische" Evidenz - wie Lauth in Anlehnung an die Terminologie Fichtes sagt - zurückgeführt (9).

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Die spekulative Kraft des Cartesischem Ansatzes beruht darin, daß er das "Resultat" seines methodischen Zweifels, die unaufhebbare Evidenz des cogito" als Sein eines Denkens und Denken eines Seins" (10) nicht aus dem Vollzug des Zweifels herauslöst, sondern mit ihm zusammendenkt. Damit wird diese grundlegende (aber, für sich genommen, doch nur faktische) Evidenz zugleich in ihrem Ursprung hell. Die "cogitatio" impliziert - da sie das Denken eines unvollkommenen Geistes ist, der zweifelt, begehrt und Wünsche hat (11) - notwendig die Idee der absoluten Wahrheit, d.h. für Descartes: Gottes. in die "cogitatio" ist die Idee Gottes wie ein "Zeichen" eingeschrieben, das der Künstler seinem Werke "eindrückt", ja, das Denken ist als diese Idee das Zeichen Gottes selbst (12).

Descartes hat in diesem Ansatz die einige Ganzheit des transzendentalen Ausgangs der Geltungsreflexion beim Denkvollzug umgriffen, die in den neueren transzendentalphilosophischen Versuchen weitgehend auseinanderfällt - wie wir oben bei der Betrachtung der cartesianischen Meditation" Husserls und dem retorsiven Ansatz in der Maréchalschule bzw. bei H. Holz sahen. Der Cartesische Zweifel ist sowohl als Selbsteinsicht einer sich denkenden Existenz wie als Affirmation einer absoluten Wahrheit gekennzeichnet. Als Idee der absoluten Wahrheit ist sich das Denken zugleich als die unaufhebbare Wahrheitssetzung hell, wie sie Maréchal und seine Nachfolger eindrücklich ins Bewußtsein gehoben haben (13).

"Der Zustand des Zweifels ist nur aus einer verborgenen Präsenz der absoluten Wahrheit in der Vernunft möglich. jeder Zweifel ist der Versuch der Aufhebung einer unbegründeten Annahme, der nur aus der absoluten Wahrheit, als aus der absolut letzten Norm der Cogitatio, zu denken ist. ... nur wenn der Zweifel radikal ist, kann die Wahrheit in ihrer letzten

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Absolutheit auftreten und nur im Horizont der absoluten Wahrheit wird ein radikaler Zweifel möglich" (14).

Auch der besonders von Maréchal unterstrichene final-dynamische Charakter des Denkens tritt hier bei Descartes ans Licht (15). Es ist die Unvollkommenheit und Bedürftigkeit des menschlichen Geistes, die die transzendentale Reflexion in Bewegung bringt (16).

Nun kommt alles darauf an, wie diese Präsenz der Idee absoluter Wahrheit im menschlichen Geiste begriffen werden muß. Ist sie ausreichend damit erklärt, wenn man sie im Sinne Kants als regulative Idee' faßt, oder ist der Schluß auf die Existenz einer absoluten Wahrheit allein aufgrund der Selbstgewißheit des "cogito/sum" notwendig?

ANMERKUNGEN

1 S. o. S. 90 f.

2 Gegen Aristoteles s. Philosophie und Reflexion 120; 206; gegen Husserl s. ebd. 331. Vgl. hierzu H. Holz, Transzendentalphilosophie 107-112.

3 Zur Kritik an der Evidenzauffassung bei Wagner vgl. H. Holz, a.a.O. 111 f. 4

4 Cart. Med.: Hua. 1 56.

5 S. o. S. 94 ff.

6 Vgl. a. H. Holz, a.a.O. 111 f.; E. Coreth, Metaphysik 130, 137.

7 Auf die fehlende Motivation für diese die gesamte Reduktion begründende Idee hat schon R. Ingarden in seinen "Kritischen Bemerkungen" verwiesen (Hua. 1 205-207); vgl. a. W. Brüning, Der Ansatz der Transzendentalphilosophie 189 f. Wenn Brüning allerdings meint: Es gilt, erst kritisch-phänomenologisch jene Voraussetzung der unabdinglichen Notwendigkeit einer absoluten Wissenschaftsbegründung zu prüfen, bevor man sie zum Leitfaden der Philosophie überhaupt macht' (ebd. 196), so wäre an ihn wiederum die Frage zu richten, nach welchem Kriterium er selbst bei dieser Prüfung vorgehen will. Ohne einen absoluten Maßstab der Kritik - mit seiner Implikation eines absoluten Geltungsbodens - bliebe er hinter Descartes sowohl wie Husserl zurück. - Zum Problem der nicht ausreichenden Motivation des Entschlusses zur Reduktion in Husserls Erster Philosophie' und allgemein in seinem Werk s. bes. L. Landgrebe, Der Weg der Phänomenologie, 192-206, und H.-G. Gadamer, Die phänomenologische Bewegung. - Vgl. u. S. 140. Anm. 14.

8 S. bes.: Der Entwurf der neuzeitlichen Philosophie durch Descartes', in: Zur Idee der Transzendentalphilosophie 11-41; vgl. a.: Die Frage nach dem Sinn des Daseins, bes. 221-240; art. Descartes' im: LThK. Eine eingehendere Erouml;rterung dieser Cartesischen Rückführung des Bewußtseins auf die absolute Wahrheit hat José Manzana von R. Lauth angeregt - innerhalb eines eigenen Versuchs letzter Wahrheitsbegründung vorgelegt, der - als eine Weiterführung Kants konzipiert - sich besonders an die Gedanken Descartes' und Fichtes anschließt, doch auch wohl Elemente der Maréchalschen Philosophie aufnimmt, wenn auch weitgehend ohne ausdrückliche Bezugnahme auf die Autoren der Marechalschule (J. Manzana, Objektivität und Wahrheit). Für den franzouml;sischen Sprachraum ist besonders auf die Arbeiten F. Alquiés zu verweisen. Zur genetischen Evidenz' vgl. bes.: La découverte métaphysique de l'homme, diap. XI, 218-238, vgl. a. den entsprechenden, kürzer gehaltenen Abschnitt in: Descartes, l'homme et l'ceuvre. Auf den Umbruch in der Descartes-Forschung der letzten dreißig Jahre, die gegenüber einer einseitigen früheren Deutung Descartesschen Philosophierens (,Descartes als Begründer der menschlichen Autonomie') herausstellt, daß in ihr über das Ich Gott als das eigentliche Subjekt gestellt wird, das die Welt im Ganzen einschließlich des Menschen trägt und bestimmt', verweist auch W. Schulz (Der Gott der neuzeitlichen Metaphvsik 9).

9 Zur Idee der Transzendentalphilosophie 29, vgl. 23. - P. K. Schneider greift diesen Gedanken auf (Die wissenschaftsbegründende Funktion 85 f.), ohne selbst allerdings im Referieren der Cartesischen Meditation über die faktische' Evidenz hinauszugehen. - Zum Verständnis der ohne die Rückführung auf die Wahrheit Gottes nur faktischen' Evidenz des cogito/sum' bei Descartes vgl. auch W. Schulz, a.a.O. 34-37; W. Rouml;d, Descartes 67, 106; M. Müller, Existenzphilosophie 112.

10 Vgl. J. Manzana, a.a.O. 147, R. Lauth, Zur Idee 22 f.

11 Vgl. Descartes, Med. III (A.-T. VII, 45 S, 48).

12 "Et sane non mirum est Deum, me creando ideam illam mihi indidisse, ut esset tanquam nota artificis operi suo impressa; nec etiam opus est ut nota illa sit aliqua res ab opere ipso diversa . . .', Med. III (A.-T. VII, 51). Treffend expliziert Alquié: le cogito est ideé de Dieu et n'est point autre chose ... doute, cogito, idee de Dieu ne sont qu'une réalité unique' (La découverte 236). L'homme n'a pas l'idée de Dieu, il est l'idee de Dieu' (ebd. 236 f.). Vgl. a. L. Oeing-Hanhoff, Der Mensch in der Philosophie Descartes' 385 (ff.).

13 Dem entspricht die Kennzeichnung des transzendentalen Ausgangspunktes bei R. Lauth (s. bes. Zur Idee der Transzendentalphilosophie 22, 33, 132 f.), und J. Manzana, der seiner beabsichtigten Weiterführung Kants entsprechend - von der Idee des objektiven Wissens' ausgeht, die nur im Lichte der Idee der Wahrheit als solcher erscheinen kann' (Objektivität und Wahrheit 27).

14 Manzana, a.a.O. 148. Wenn Manzana diesen Ansatz beim Zweifel als eine andere Art der transzendentalen Fragestellung' (ebd. 149 A 13) bezeichnet, so dürfte das doch nur im Hinblick auf den anderen Modus, in dem die Idee der Wahrheit hier im Zweifel gegenüber positiveren' Denkvollzügen (wie dem objektivierenden Urteil) erscheint, gemeint sein.

15 Vgl. F. Alquié: "... idee de Dieu et cogito ne sont autre chose que ce renvoi a l'Etre que nous ont révéle le doute de la Méditation premi&etrave;re et la conscience de la Méditation seconde, et qui, en la Méditation troisi&etrave;me, se manifeste, sous la forme du désir . . .' (La découverte 220).

16 Vgl. Med. III (A.-T. VII, 48, 51).


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