§ 3. Die Evidenz des "absolut begegnenden anderen" als Möglichkeitsbedingung des Zweifels

Jeder Zweifel ist notwendig objektiv', auf einen Gegenstand gerichtet. Dieser Sachverhalt wird allgemein zugestanden. Auch der "subjektivistischste" Idealismus weiß, daß das Ich das andere seiner selbst setzen muß, um bei sich selbst zu sein. Im Unterschied zu einem jeden - wie auch immer näher zu charakterisierenden - Realismus betrachtet der metaphysische Idealismus diese Setzung eines Nicht-Ich aber als eine bloße Projektion des Ich, die "Voraussetzung" des anderen zur Bestimmung des Ich nur als eine Setzung ebendieses Ich bzw. das andere als ein bloßes Moment eines das Ich und das andere umgreifenden dialektischen Prozesses, ohne daß damit etwas für die Existenz eines Gegenüber, für ein wirkliches An-sich des anderen (nicht nur ein An-sich von Gnaden des Ich, d. h. der notwendigen Differenzierung zwischen Für-mich und An-sich als Setzung der Subjektivität) ausgemacht wäre.

Wie ist nun innerhalb eines transzendental-kritischen Ansatzes die Erkenntnis eines wirklichen An-sich-seins des begegnenden anderen zu vermitteln, und zwar so, daß zugleich die Frage nach der Möglichkeit von Offenbarung beantwortet wird, die die Erkenntnis der Möglichkeit absoluter Begegnung im sinnlich-geschichtlich erscheinenden anderen fordert?

Wir verwiesen oben kurz auf die Versuche J. Defevers (1) und E. Coreths (2), objektives An-sich-sein aus einem transzendentalen Ansatz zu erweisen. Der Mangel ihrer Argumentation liegt darin, daß sie innerhalb des retorsiven Ansatzes verbleibt. In der Retorsion (3) wird nämlich nicht nach der Legitimation einer bestimmten Setzung gefragt, sondern der wesentliche Punkt des Argumentierens liegt in der Beschränkung auf das mit dem Denken überhaupt notwendig verbundene Setzen'. Gehe ich (fiktiv) auf einen Gegner ein, der möglicherweise Wahrheit überhaupt leugnet, um ihn in der darin implizierten Setzung einer notwendig mitgesetzten Wahrheit zu überführen, so übergehe ich das Wichtigste in bezug auf die Wahrheitserkenntnis: die Selbstverantwortung der Setzung angesichts der Wahrheit.

Nicht in der (Zweifels- usw.) Setzung als solcher, rein theoretisch-formal betrachtet, ist ein wirkliches Gegenüber impliziert. Ich kann mir beliebig viele Setzungen ausdenken, deren Gegenstand wirklich nicht mehr als eine reine Projektion ist. Ich muß zwar in jeder Setzung etwas' projizieren, [pro-

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jizieren], damit allein verbleibt das Gegenüber' aber noch im Bereich bloßer Idealität (4).

Damit ist zugleich gesagt, daß die Begründung der Philosophie keine rein theoretische sein kann, sondern notwendig auf die praktische Bestimmtheit der Vernunft zurückgreifen muß, um nicht von vornherein die Realität zu verfehlen. Für die transzendentale Analyse des Zweifels ist es notwendig, ihn als vor sich selbst verantwortet ernst zu nehmen. Der Zweifel ist nur insofern für die Begründung der Philosophie belangvoll, als er sich selbst als radikale Entschiedenheit zur Wahrheit versteht (5).

In unserer Reflexion auf den Zweifel hatte sich nun gezeigt, daß der radikal durchgeführte Zweifel sich angesichts des "cogito/sum", der Existenz des transzendentalen Ich, als "gegenstandslos" erweist. Die Legitimität des Zweifels fällt vor der Wahrheit seines eigenen Vollzuges dahin. Zweifelhaft kann immer nur das andere des (transzendentalen) Ich sein. Dieses andere bestimmt das Ich zwar so innerlich, daß das Ich für eine Welle selbst unter den Schein der Zweifelhaftigkeit geriet. Indem das Ich aber seine absolute Bestimmung zur Wahrheit erfaßt, erkennt es diesen Schein sogleich als bloßen Schein und Trug.

Was heißt dies aber, daß das andere' zweifelhaft ist? Ist es wirklich zweifelhaft, dann kann das nach der voraufgehenden Erörterung des Zweifels als radikaler Bestimmtheit zur Wahrheit nur bedeuten, daß das andere zu Recht vor dem Maßstab der absoluten Wahrheit gewogen wird. Etwas zu Recht angesichts der absoluten Wahrheit prüfen kann ich aber nur, wenn es wirklich etwas mit der absoluten Wahrheit zu tun hat. Hat es nichts damit zu tun, dann ist mein Zweifeln, in dem ich das andere in das Licht der absoluten Wahrheit halte, ungerechtfertigt. Ich bringe dann in meiner Setzung fälschlich zweierlei zusammen, die nichts miteinander gemein haben. Mein Zweifeln hat also Grund und Recht allein darin, daß ich das andere nicht nur in das Licht der absoluten Wahrheit halte, sondern daß es ursprünglich in diesem Lichte steht. Der sich selbst bewußte Zweifel überführt sich also eines (zwar nicht logischen, aber spekulativen) Widerspruchs: Er stellt die Wahrheit des anderen radikal, d. h. vor dem Lichte absoluter Wahrheit in Frage, kann dies begründet aber nur tun, wenn ihm das andere ursprünglich aus

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der Offenbarkeit dieses Lichts entgegengehalten ist. Der Zweifel setzt als die Bedingung seiner Möglichkeit voraus, daß sich dem Denken das zweifelhafte andere im Lichte absoluter Wahrheit gezeigt hat.

Was hier in formaler Ausdrucksweise festgestellt wurde, läßt sich leicht am konkreten Zweifelsvollzug veranschaulichen. Die Not des Denkens im wirklichen Zweifel - und wo der Zweifel keine Not des Subjekts darstellt, handelt es sich immer schon um eine willkürliche Setzung, die mit der Wahrheit wenig zu tun hat - gründet gerade in dem Zusammen von Endlichkeit und Unendlichkeit, von Offenheit und Verstelltheit im Gegenüber des Subjekts, auf welches das Subjekt zum Vollzug seiner selbst notwendig verwiesen ist. Dessen Endlichkeit allein könnte das Subjekt nicht in diese Not bringen. Nur ein Wissen um die Bestimmtheit des begegnenden anderen durch dieselbe Wahrheit, die das zweifelnde Subjekt bestimmt, ein Wissen um die ursprüngliche Identität des anderen mit dem Ich in der absoluten Wahrheit kann erklären, warum das Ich so zum anderen seiner selbst als dem Ort absoluter Wahrheit hin genötigt wird, daß es schließlich an seinem Streben verzweifelt, sich selbst im Horizont gültiger Wahrheit mit dem anderen zusammenzuschließen.

So sehr nun der radikale Zweifel am begegnenden anderen nicht umhin kann, "in actu exercito" Zeugnis für die Begegnung des anderen in offenbarer Wahrheit zu sein, so sehr kann er sich selbst jedoch nicht als den ursprünglichsten Ort dieser Offenbarkeit begreifen: ihm ist die Wahrheit des anderen ja gerade zweifelhaft. Um sich selbst in seiner eigenen Möglichkeit einzuholen, muß das zweifelnde Denken also auf eine ursprünglichere Helle seiner selbst zurückgehen. Es hat die Reduktion" auf einen Wahrheitsvollzug zu leisten, der als der eigentliche Ort der Offenbarkeit des begegnenden anderen angesprochen werden kann. Sofern es aber zweifelndes Denken ist, das diese Reflexion vollzieht, wird es nicht bei einer solchen Reduktion' stehenbleiben können, sondern aus dem Ort ursprünglicher Offenheit des anderen die Deduktion' seiner eigenen Möglichkeit, des Zweifels an der Wahrheit des anderen, zu vollziehen haben.

ANMERKUNGEN

1 S. 54-56.

2 S. S. 85 ff.

3 S. Abschnitt II, Kap. 1, õ 3.

4 Man k”nnte zwar einwenden, indem die Vernunft nicht anders kann, als anderes zu setzen, um berhaupt sie selbst zu sein, erweise sie bereits das An-sich eines anderen. Wie kann man aber von einem solchen An-sich-sein in seiner v”lligen Unbestimmtheit zu einem bestimmten und mich bestimmenden anderen gelangen und so dem von Hegel gezeigten Umschlag des inhaltleeren Seins ins Nichts begegnen?

5 Vgl. o. S. 140 f.


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