§ 5. Der Zweifel und das Zurücktreten des Seins in die reine Idealität. Rückblick

Aus dem Vergehen des Augenblicks des Staunens brach die Dialektik von Frage und Urteil hervor. Das Urteil hatten wir als den Versuch eines Standgewinnens der Vernunft in ihrer allgemeinen Verfaßtheit als Frage bestimmt, einen Versuch, das endliche Seiende mit seinem Grund, aus dem

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es hervor-, der dann aber gegen es zurücktrat, wieder zusammenzuschließen.

Als ein Ereignis, das aus dem Sein selbst hervorgeht, vermag die Differenz zwischen Seiendem und Sein sich aber stets gegen die zusammenschließende Vernunft zu behaupten. Die Differenz kann nie aus der Vernunft, sondern allein aus dem Sein getilgt werden. Das Fragen behält also in allem nur Faktischen und Endlichen die Oberhand.

Je mehr sich im Widerstreit von Frage und Urteil die "Objektivität" der Dinge und der methodische Hinblick verschärft, die Grenze des "clare et distincte" Abgehobenen in den Vordergrund und das Sein als bergendverborgener Ursprung in den Hintergrund tritt, wird das Fragen zum radikalen Infragestellen, wird es zum Zweifel: Das Seiende, weil ursprünglich dem versammelnden Grund des Seins zugehörig, weist die distinguierende Tätigkeit der Vernunft, ihr klassifizierendes Verfügen über Objekte als seinem ursprünglichen Wesen ungemäß ab. Die ratio erfährt ihr eigenes Ungenügen vor dem sich immer wieder entziehenden Sein des Seienden, das nie auf dem Wege der Synthese von Einzelaspekten "in den Griff" kommt.

Zugleich aber vermag das Seiende, als endliches, das Sein nicht an sich zu halten. Die das Sein suchende Vernunft wendet sich, da sie in keinem ihrer Urteile das Seiende so mit dem Sein zusammenschließen kann, daß der Widerspruch gegen das Absolute von der begegnenden Realität her überwunden ist, auf sich selbst zurück, dem einzigen "Ort", wo sich die Unendlichkeit und Unbedingtheit des Seins rein erwirkt - nämlich in der "Apriorität" der Vernunft, ihrer absoluten "Finalität" und Dynamik -, und gewinnt in ihrem reinen "cogito/sum" einen absolut unbezweifelbaren Grund des Seins. Das wahre und gültige Sein fällt mit der reinen Idealität zusammen.

Wir haben (Abschn. II, Kap. I) zur Untersuchung der Frage nach der Möglichkeit von Offenbarung beim universalen Zweifel angesetzt, der gegen die Faktizität aller geschichtlichen Vollzüge in ihrer unentschiedenen Geltungsdifferenz aufbricht. Diesem methodischen Zweifelsansatz sind wir auf verschiedenen Wegen nachgegangen: in der Reflexion auf das cogito/sum als den letztgültigen Wirklichkeitsgrund; im Rückgang auf die ursprüngliche Wahrheitssetzung als den letzten Geltungsgrund; und schließlich, anhangsweise, im Blick auf die besonders geartete Gel- [Geltungsreflexion]

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H. Wagners auf das Absolute = Denken. Auf diesen Wegen gelangt das Subjekt zwar zu einer letzten faktischen Gewißheit seiner Subjektivität als Bewußt-Sein, bleibt aber hinsichtlich möglicher gültiger Bestimmung seiner selbst wie alles anderen ungewiß.

In der Reflexion auf die im universalen Zweifel implizierten VorausSetzungen (Kap. II) ergab sich als die grundlegendste Möglichkeitsbedingung des radikalen Zweifels die Idee absoluter Wahrheit, deren Evidenz wiederum die Existenz absoluter Wahrheit sowie die ursprüngliche Eröffnetheit der Vernunft durch die Begegnung des anderen (neutral) im Lichte absoluter Wahrheit voraussetzt. Grundsätzlich ist auf dieser Reflexionsstufe bereits die Möglichkeit von Offenbarung vermittelt: Selbst der universalste Zweifel an gültiger Bestimmung geschichtlicher Vollzüge impliziert eine vorgängige Eröffnetheit der Vernunft durch das im Lichte absoluter Wahrheit begegnende andere.

Da auf dieser Stufe die Einsicht in die Möglichkeit von Offenbarung aber im Widerspruch zum faktischen Vollzug (dem Zweifel, dem die Möglichkeit gültiger Begegnung gerade fraglich ist) verbleibt, galt es, die ursprüngliche Wahrheit der Vernunft genetisch so zu erhellen, daß von ihr her die Möglichkeit des Zweifels abgeleitet werden kann. Über die ontologisch früheren, doch selbst abgeleiteten Vollzüge von Frage und Urteil (Kap. III) tasteten wir uns daher auf das Staunen (Kap. IV) zurück und versuchten, den ursprünglichen Augenblick des Staunens als das sinnlich-geschichtlich begegnende Sich-Gewähren absoluter Freiheit zum Heil-Sein der menschlichen Freiheit zu bestimmen, als einen Augenblick (punktuell-inchoativ) wirklicher Offenbarung.

Aus diesem ursprünglichen Augenblick des Staunens leiten sich, beim Zurücktreten der sich gewährenden Freiheit in die (das begegnende andere eingrenzende) Differenz, die Vollzüge von Frage und Urteil, und schließlich des Zweifels ab (Kap. V).

Dieser - notwendig skizzenhaft bleibende - Versuch, die Frage nach der Möglichkeit von Offenbarung so zu beantworten, daß eine ursprüngliche Offenbarung als die letzte Möglichkeitsbedingung der Vollzüge menschlichen Geistes einsichtig wird, befaßte sich vorwiegend mit der theoretischen Seite dieser Vollzüge. Eine zureichende Erhellung des Sachverhaltes müßte notwendig auch deren praktische Bestimmtheit von vornherein anders thematisch werden lassen, als dies im Rahmen unserer Arbeit, die besonders auf die transzendentalen Ansätze in der Maréchalschule und bei G. Siewerth einging, möglich war.

Bevor wir einen letzten Rückblick auf das Gesamtergebnis der Untersuchung wagen, soll auf die praktisch-existentielle Bedeutung des hier in theoretischer Rücksicht Entfalteten wenigstens kurz hingewiesen werden.


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