89. Deutscher Bibliothekartag 1999 in Freiburg im Breisgau

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Bischof Prof. Dr. Dr. Karl Lehmann, Mainz

ZEITENWENDE - MEDIENWENDE ?

Schrift, gedrucktes Wort und Buch als bleibende Kulturleistungen

Festvortrag beim 89. Deutschen Bibliothekartag 1999, Freiburg i.Br. am 25.05.1999


Die Schrift, das gedruckte Wort und das Buch sind für uns so geläufig geworden, daß wir die einzelnen Zusammenhänge nur selten reflektieren. Darum mag es gut sein, die Gelegenheit eines solchen Bibliotheakartages und der Jahrestagung des Deutschen Bibliotheksverbandes zum Anlaß zu nehmen, darüber mit Ihnen nachzudenken. Ich bin mir dabei bewußt, viele Zuhörer vor mir zu haben, die in diesem Bereich viel kundiger sind. Darum werde ich auch bei den Überlegungen bleiben, bei denen ich mich im Rahmen eines so großen Themas eher kompetenter fühlen kann.


I.

Dieses Thema kann man kaum behandeln, ohne vom Menschen, von der Kultur und vom Wort zu reden. Wir alle kennen die Bestimmung, die wir in der "Politik" des Aristoteles lesen: Der Mensch ist das Lebewesen, das den Logos hat. Schon mit der Übersetzung sind wir mit einem Schlag mitten in der Sache. Wir sind gewohnt, unter Logos "Vernunft" zu verstehen. Die lateinische Übersetzung heißt ja auch animal rationale. Aber die Griechen haben hier, ohne Vernunft völlig auszuschließen, zuerst an die "Rede" gedacht - eben das Wort, das man zueinander sagt. In unserem Jahrhundert hat Ferdinand Ebner einmal gesagt, der Mensch "hat" das Wort. Er meinte damit, daß ihn dies gegenüber allen anderen Naturwesen auszeichnet. Natürlich ist damit nicht nur ein einzelnes Wort, aber auch nicht die Anhäufung von Wörtern gemeint. Der Logos ist eher eine Fügung einzelner Worte zu einem Sinn. Wir geben ja auch jeder "Rede" - bis zum Erweis des Gegenteils - einen Vorschuß, daß sie wirklich etwas Sinnvolles sagt. Es ist somit auch mehr gemeint als ein einzelner Satz, der für sich - auch wenn er unvollständig ist - einen Gedanken in sich birgt und manchmal auch abschließt. Ganz gewiß dürfen wir ebenso daran denken, daß jedes Wort und erst Recht jede Rede irgendwoher kommen und irgendwohin zielen. Dies kann sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Aber auch noch das Wort der Kunst, das - um eine berühmte Aussage aufzugreifen - selig in sich selbst ruht und leuchtet, kommt meist von einer Auseinandersetzung um Welt und Mensch her und entstammt einem Gespräch. Das Wort ist so immer schon Ant-wort und erzeugt manchmal wiederum ein Nachwort, das auch ein Gegenwort sein kann. So ist das Wort auch Mitteilung in der reinsten Form. Es ist dabei mehr als nur ein Ausruf des Schmerzes oder der Lust. Wir spüren, was es bedeutet, wenn jemand uns kein Wort mehr zusagt. In vielen Fällen ist dies Ausdruck davon, daß eine Gemeinschaft in große Gefahr oder bereits zerstört ist. Das Wort bringt eine Gemeinsamkeit zum Ausdruck. Selbst wenn wir streiten, haben wir noch eine gemeinsame Ebene. Für das treffende Wort, wohl für jedes Wort brauchen wir auch eine Übereinkunft. Auch wenn das Wort zum Menschen gehört, so ist es doch nie nur eine Sache der Natur, sondern eben der menschlichen Vereinbarung. Hier liegt immer wieder die Gefahr warum nämlich das Wort auch danebengehen kann. Das Wort kann zu einer großen Gefährdung werden. Wir wissen und erleben es, welche Waffen im Wort und in der Rede stecken.

Das Wort gehört im strengen Sinn niemand. Besser gesagt gehört es: Jedem und Allen. In diesem Sinne gehört das Wort ganz eng zur Kultur, zum Ensemble dessen, was zum Menschen als einem zivilen Wesen gehört: Natur und Kunst, Sitten, Bräuche, Taten und Werke. Kultur ist immer auch das, was sie selbst vorstellt und darstellt. So ist Kultur das, was die Menschen daran hindern kann, übereinander herzufallen und sich schlimmer zu verhalten als ein Tier. Dies hat mit dem Wort zu tun, dessen wir fähig und mächtig sind. Gerade auch in politischen Verhandlungen, die Unfrieden und Krieg überwinden wollen, braucht es das treffende, eine Gemeinsamkeit hervorbringende Wort. Wir spüren es in diesen Tagen besonders, wie wichtig ein solches Wort ist. Darum ist es auch nicht zufällig, daß das Wort vom Menschen als einem Lebewesen, das den Logos hat, in der "Politik" des Aristoteles steht, in einer Abhandlung über Voraussetzungen und Unmöglichkeiten des Menschen im Gemeinwesen.

Der Altmeister des philosophischen Denkens, der ein ganzes Jahrhundert durchmißt, Hans-Georg Gadamer, hat einmal in solchem Nachdenken über das Wort von drei Formen des Wortes gesprochen. Es ist zunächst das Wort der Frage, welches ruhelos ist, der Neugierde und dem Wissensdurst entstammt und sich selber ständig überschreitet. Der Mensch lebt aus diesem Fragen und Fragenkönnen. Das ständig sich selbst überholende Weiterfragen wird wirklich im menschlichen Wissen und ganz besonders in der Wissenschaft. Aber auch viele technische Errungenschaften entstammen letztlich einem Weiterfragen, das sich mit den Möglichkeiten der bloßen Natur allein nicht zufriedengibt. An die zweite Stelle setzt Gadamer das Wort als Poesie und Sage. "Sage zeichnet hier das Ganze des eigentümlichen Anspruchs von Worten, sich selbst zu erfüllen, nichts ausstehen zu lassen, was das Gesagte erst bestätigt oder beglaubigt, sondern im Gesagtsein selber seines Gesagten gewiß zu sein. Das ist der uralte Sinn von Mythos." (Lob der Theorie, Frankfurt 1983, 23) Indem Bedeutung und Klang zusammenfallen, ist dieses Wort dichterisch. Es ist so immer auch nicht bloß ein Stück unserer Welt, sondern es stellt immer wieder unsere Welt dar, und sei es in einem Kieselstein oder in einer Lampe. Der Heidelberger Philosoph nennt als dritte Weise das Wort der Versöhnung und der Vergebung. Ich sprach bereits davon, welche Macht das Wort hat, wenn es Entzweite wieder einen kann, wenn Zwist und Unrecht durch das Wort überwunden werden können. Auch die Gebärde der ausgestreckten Hand gehört dazu. Sie empfängt freilich durch das gesprochene Wort erst ihre volle Bedeutung. Dies wird noch deutlicher in der Versöhnung: "Überall dort, wo Entzweiung war und Zwist und Zerfallensein, wo wir miteinander zerfallen waren, wo unser Miteinander zerfallen war, ob es sich um ein Ich handelt oder Du oder um eine Person und die Gesellschaft oder etwa um den Sünder und die Kirche - überall erfahren wir es, daß mit der Versöhnung ein Mehr in die Welt getreten ist. Nur durch die Versöhnung wird die Andersheit, die unaufhebbare Andersheit, die Mensch und Mensch trennt, überwindbar, ja, zu der wundersamen Wirklichkeit eines gemeinsamen und solidarischen Lebens und Denkens heraufgehoben". (Lob der Theorie, S.24f.)

Wir spüren, daß ein solches Wort gerade in seiner jeweiligen Verschiedenheit bedeutungsvoll ist. Darum möchten wir es nicht ganz verlieren. Dafür gibt es die Überlieferung, die nicht weniger zum Menschsein gehört. Wir sollten dabei auch sehr an die mündliche Überlieferung denken. Über Jahrhunderte und Jahrtausende haben Erzählungen, Überlieferungen von Sagen und religiöse Gebete Bestand gehabt und haben ihn noch. Das Gedächtnis ist von großer Bedeutung für die Reife des Wortes und für das Lebendigbleiben einer Rede. Die Memoria gewährt einem würdigen Wort Rang und Geschichtsüberlegenheit. Gerade wenn wir dies vor Augen haben, entdecken wir wieder auch neu die Schrift.


II.

"Schrift" ist zunächst ein sehr vieldeutiges Wort. Es kann eine Einritzung sein, irgendeine Spur. Dazu gehört die Fixierung von Zeichen und Merkmalen auf allen möglichen Materialien wie Stein, Holz oder Metall und den allen Kulturen naturgegebenen Beschreibstoffen. In der Nähe stehen frühgeschichtliche Vorformen von Mitteilungen wie Wandmalereien, Kerbhölzer oder Botenstäbe. Es gibt auch in der sogenannten "Gegenstandsschrift" einzelne Bilder. Die älteste bekannte Bilderschrift ist wohl gegen 5.000 Jahre alt. Die Abstrahierung der Bildzeichen führt wohl zur Keilschrift. Andere Wege - besonders des alten Vorderen Orients - führen zur ägyptischen hyroglyphischen Schrift oder zur semitischen Buchstabenschrift, die freilich auf lange Zeit nur Konsonanten, jedoch keine Vokale hat. Von da aus erfolgt die Weiterbildung zur griechischen Schrift, der Mutter der abendländischen Alphabetschriften, zur sogenannten Lautschrift.

Von wirklicher Schrift sprechen wir erst dann so recht, wenn Mitteilungen Wort für Wort wiedergegeben werden, sei es in Wort-, Silben- oder Lautschrift.

Wir haben gesehen, wie die mündliche Überlieferung über viele Jahrhunderte sehr treu sein kann. Die Schrift bringt hier sicher auch wichtige Züge hinzu, obgleich der Weg der schriftlichen Überlieferung nicht leicht zu verfolgen ist. Wenn wir es wirklich mit der Schrift im erklärten Sinne zu tun haben, dann hat die Bewahrung in der Schrift sicher auch etwas mit dem Grund für die Bewahrung einer Sache zu tun. Im Kern muß es sich, auch wenn es sich noch um Spielerisches handelt, um etwas Bewahrenswertes handeln. Jede schriftliche Fixierung hebt das Gesagte oder Gedachte in einen neuen Rang. Die Schriftwerdung ist zunächst auch etwas Abschließendes. Etwas hat eine Gültigkeit für sich bekommen. Jede Schrift hat von Anfang an etwas Dokumentarisches an sich. Das, was Schrift wird, ist wert weitergegeben und anderen mitgeteilt zu werden. Das Schriftwerden erhebt eine Sache über den Augenblick der Rede und verleiht ihr eine gewisse Widerständigkeit gegen das Vergehen und das bloße Verwehen gesprochener Laute. Dies ist nicht ungefährlich, denn das Schriftgewordene verliert so gleichsam seine unmittelbare Heimat, erhebt sich über den Kontext und gerät in die Gefahr der Isolierung. Dabei ist auch nicht zu übersehen, daß die Schrift zunächst "Niederschlag" einer Rede oder einer Erfahrung ist. Sie verwahrt diese und schließt sie auf, wenn wir sie lesen können. Aber sie verdeckt bis zu einem gewissen Grad auch das Geschehene. Darum gibt es von Anfang an auch die Differenz zwischen der Schrift und dem in ihr Verwahrten. Es ist verständlich, daß diese Unterscheidung im Raum der Religionen besonders deutlich wird, wo es z.B. einen beträchtlichen Unterschied zwischen dem Propheten und den Prophetenberichten, den frühen Propheten und den Schriftpropheten, der Schrift und dem Evangelium gibt.

Jedoch ist es auch wichtig zu sehen, daß die Schrift ihrerseits wieder eingebettet ist, indem sie auf den Leser blickt. Das rein Schriftliche ist dem Mißbrauch und dem Mißverständnis ausgesetzt, weil es der selbstverständlichen Korrektur des lebendigen Gesprächs entbehrt. Darum blickt der Schreiber auf den Empfänger, bei dem man sinngemäßes Verständnis erzielen will. Darum werden auch oft sakrosankte Worte in der Überlieferung so sehr am Adressaten ausgerichtet, daß es zu erheblichen Veränderungen kommt. Wir sehen dies gut in der Behandlung von Prophetensprüchen, aber auch der Worte Jesu. "Schreiben" ist mehr als bloße Fixierung von Gesagtem. Die Schrift blickt zurück auf das, was ursprünglich gesagt ist. Sie blickt aber auch nach vorne, weil sie jetzt schon um künftige Verständigung besorgt ist. Aber es bleibt dabei, daß man in der Unmittelbarkeit der Gesprächssituation durch Rede und Gegenrede mehr sagen kann, als die Schrift allein mitteilt.

Es gibt die Schrift sicher auch, weil man etwas so Bedeutungsvolles zu sagen hat, was in sich steht, vor dem Zerreden und Entstellen bewahrt werden muß und gleichsam "fixiert" und "gesichert" werden soll. Aber wir haben schon gesehen, daß dabei notwendigerweise die Frage entsteht, was denn wirklich damit gemeint ist. Je mehr das Wort als Schrift fixiert wird, um so mehr entsteht auch die Frage, ob das in einem Text Gegebene lebt oder tot ist. So kommt es auch zum biblischen Grundmuster von "Buchstabe" und "Geist". In jedem Fall ist man immer wieder von kommunikativen Bedingungen abhängig. Wir kennen ähnliches auch vom Problem der Übersetzung her. Jede Übersetzung ist immer schon auch Interpretation.

So ist es auch verständlich, daß Schriftgewordenes eine eigene Verbindlichkeit hatte, sobald Verträge, Vereinbarungen oder auch Protokolle unterzeichnet worden sind. Aber auch hier ist der Streit um die Auslegung unvermeidlich, wenn wir auch nicht selten von einem "wasserdichten Text" sprechen möchten. Der Text bewahrt etwas von der Klangfülle und Vieldeutigkeit des gesprochenen Wortes und der Rede.

Man kann von hier aus verstehen, wie kostbar nicht nur die Materialien der Schrift, sondern die Dokumente selbst geworden sind. Ich brauche nur an die wunderbaren Handschriften vieler Zeiten mit ihren Bildlegenden und figürlichen Darstellungen zu verweisen, wo sich Wort und Bild - wie bei den "Incipit" - eng vereinen. Es gibt zur Zeit, nicht zuletzt im Zusammenhang des 900jährigen Jubiläums der Gründung der Zisterzienser-Klöster viele Beispiele dafür. In diesem Sinne haben die mittelalterlichen Klöster einen, wie mir scheint, immer noch zu wenig gewürdigten Beitrag zur Kulur des Wortes und der Schrift geleistet.


III.

Zeitenwenden können auch Medienwenden sein. Aber es besteht kein notwendiger Zusammenhang. Mindestens Johannes Gutenberg hat eine solche Medienwende eingeleitet. Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern markiert den Aufbruch in eine neue Zeit. Die Idee zu seiner Erfindung kam ihm beim Besuch Mainzer Klöster, in denen er die schreibenden Mönche beobachtete. Im Bestreben, das Wort Gottes allen zugänglich zu machen - er war ein frommer, gottesfürchtiger Christ - wurde er Medientechniker und Künstler. Seine Bibel, die er mit einer eigens dafür hergestellten Druckerpresse in dreijähriger Arbeit anfertigte, ist und bleibt ein Symbol des technischen Fortschritts. Gutenbergs Erfindung machte es möglich, die großen Güter des Wissens erschwinglich und in hohen Auflagen zu vermitteln. Auch wenn diese Erfindung auf leisen Sohlen kam, so hat sie doch die Welt verändert. So haben viele bedeutende Menschen von damals bis in unsere Zeit die Entdeckung Gutenbergs "als das höchste und äußerste Gnadengeschenk" Gottes (Martin Luther) gefeiert. Ich brauche nur noch Johann Wolfgang von Goethe zu zitieren: "Die Buchdruckerkunst ist ein Faktum, von welchem ein zweiter Teil der Welt- und Kunstgeschichte datiert, welcher von den ersten ganz verschieden ist." Und Georg Christoph Lichtenberg sagt in der Begeisterung der Aufklärungs- und Revolutionszeit: "Die Buchdruckerkunst ist doch fürwahr eine Art Messias unter den Erfindungen." (Vgl. H. Presser, Johannes Gutenberg, Reinbek 1979, S. 128)

Es mag nachdenklich stimmen, daß man nicht nur in Mainz im kommenden Jahr wieder Gutenberg feiert. Zeitenwende und Medienwende scheinen wirklich etwas miteinander zu tun zu haben.

Die Wirkung Gutenbergs ist jedenfalls unabsehbar. Die Volksbildung wurde verbreitert. Immer größere Schichten der Bevölkerung fanden Zugang zum Buch und zum Wissen. Sie förderte den wirtschaftlichen Fortschritt durch die größere Kenntnis von Produktionserfahrungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die Wissenschaftsentwicklung beschleunigte sich. Kolumbus hatte Kenntnis von der Erde als Kugel durch gedruckte Bücher. Martin Luther lobte die Presse als gewaltigen Helfer bei der Reformation. Alle Versuche, durch Zensur der Verbreitung Grenzen zu setzen, mußten schließlich scheitern. Heinrich Mann schrieb das Wort: "Die Bücher von heute sind morgen Taten."

Es war zweifellos auch eine wichtige Folgerung des Buchdrucks, daß soziale Verhältnisse verbessert wurden. "Eine wichtige Folgerung des Buchdrucks war und ist die wachsende Chance begabter Kinder aus benachteiligten sozialen Schichten und Klassen, zu den Quellen der Bildung und Kultur vorzudringen. Damit führt er zu einer relativen Demokratisierung, zumindest mußten die Herrschenden auf die öffentliche Meinung Rücksicht nehmen, wenn sie ihre Entscheidungen trafen. - Nicht zuletzt wurde auch die ästhetische Bildung durch den Buchdruck und das Buch beeinflußt. Die Multiplizierung von Werken in der Literatur, der bildenden Kunst und der Musik öffneten vielen Menschen den Zugang zur Kultur und einem Leben mit ästhetischem Niveau, wie dies vorher unbekannt war. Der Offsetdruck und der Tiefdruck waren neben den Buchdruck getreten und verbesserten die Bildwiedergabe." (A. Kapr, Johannes Gutenberg, München 1988, S. 287f.) Ich brauche kaum zu betonen, in welch hohem Maß sich moderne Technik und ästhetische Qualität in wirklich schönen Büchern verbinden können. Gutenberg selbst hat ja immer wieder darauf hingearbeitet, ein Buch herzustellen, das von der Handschrift kaum zu unterscheiden war.


IV.

Der kanadische Medien-Theoretiker, Herbert Marshall Mc-Luhan, hat einmal gemeint, die Erfindung der beweglichen Lettern verbunden mit dem Schreiben von Wörtern und Sätzen durch das Aneinanderreihen von Buchstaben habe uns die Entwicklung vieler anderer gegliederter Verfahren gelehrt. Sie habe die Erfindung des Fließbandes, ja sogar die gesamte industrielle Revolution ermöglicht. Zugleich vertritt Mc-Luhan die Ansicht, wir seien am Ende der Gutenberg-Galaxis (vgl. Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters, Düsseldorf 1968). Er sah die Revolution im Übergang vom Bleisatz zum körperlosen Lichtsatz oder zum digitalen Satz. Er sah zugleich einen Zusammenprall alphabetischer und elektronischer Kulturformen voraus. Mc-Luhan war überzeugt, daß die Zukunft dem weltumspannenden Radio, dem Fernsehen und neuen elektronischen Medien gehören. Sicher gibt es Anzeichen dafür, die dies befürchten lassen. Wir haben einen großen Fernsehkonsum, der es der Lesekultur recht schwer macht. Ich brauche hier keine neuen Zahlen mitzuteilen. Es gibt schon seit einigen Jahrzehnten alarmierende Entwicklungen. Elisabeth Noelle-Neumann und ihr Allensbacher Institut für Demoskopie hat immer wieder empirisch die Fernseh- und Leselandschaft überprüft. Sie hat auch immer schon Hinweise gegeben, wo die eigentliche Frage und Aufgabe ist. Wir müssen Methoden erkunden, die verhindern können, daß sich Fernsehen ohne Lesen immer mehr ausbreitet. "Es würde in einer Gesellschaft von Fernsehzuschauern, die nicht zugleich Leser sind, im gesamten politischen Bereich, in allen Bereichen, in denen Menschen auf Informationen außerhalb ihrer Erfahrungen angewiesen sind, die Manipulierbarkeit erleichtert. Und würden wegen Mangels an Übung und Verwöhnung durch Fernsehen die Barrieren, ein Buch zu lesen, höher werden, dann würden die Ich-Erfahrung und Phantasie veröden." (Die verstellte Welt, Frankfurt 1988, S. 251) Es gibt gewiß eine Verkümmerung der Phantasie und die Gefahr einer verstellten Welt. Das Überangebot an eilfertiger Information suggeriert Einblicke in die Wirklichkeit und behauptet, uns die Welt überschaubarer und die Wirklichkeit durchschaubarer zu machen. Die Welt erscheint als Medieninszenierung. Hartmut von Hentig scheut sich nicht, ein Buch zu überschreiben "Das allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit" (München 1984) und versieht seine Streitschrift mit dem Motto: "Auf zwei Beinen stehe, Oben sei ein Kopf."

Es wäre töricht, den Vorzug der elektronischen Möglichkeiten in den Medien und die enorme technische Entwicklung im elektronischen Bereich zu leugnen. Hier liegt ja auch kein eigentlicher Gegensatz zum Wort und zur Schrift vor. Es ist ja auch etwas Urtümliches, wenn die Schrift nun immer mehr als Spur von Lichtsignalen erscheint. Wir dürfen es uns nicht zu einfach machen, wir dürfen die Gefahren, die es zweifellos gibt, nicht durch eine neue Technikfeindlichkeit bangen wollen. Wir können auch auf die rasante Verbesserung der Informationsmöglichkeiten überhaupt nicht verzichten. Niemand kann im Ernst so etwas denken. Aber zweifellos muß im Interesse der Humanität die Lesekultur, wofür ja schon vieles geschieht, grundlegend verbessert werden.

Zur Medienpolitik bei der hohen Ausbreitung der neuen Medien gehören Maßnahmen der Leseförderung. Es ist ein Test auf unsere Sensibilität und Reaktionsfähigkeit. Werden wir fähig sein, auf Gefahren für unsere auf Schrift gegründete Kultur zu reagieren? Auch wenn die Schäden nicht so evident sind wie beim Waldsterben, so brauchen wir doch eine regelrechte Medienökologie. Wenn wir dies nicht beachten, verändert sich vieles unmerklich, wie es Medienwenden an sich zu haben scheinen. Eine andere Qualität der Wahrnehmung zeigt sich. Es ist auch gut, wenn wir die Frage aufkommen lassen: "Wird der Bildschirm des Computers das Buch überflüssig machen, wird Gutenbergs schwarze Revolution bald nur noch ein Abreisblatt in der Geschichte der Textverarbeitung sein?" (S. Lenz, Literatur - Ende des Gutenberg Zeitalters?, in: Was steht uns bevor? Mutmaßungen über das 21. Jahrhundert, Festschrift für H. Schmidt, Berlin 1999, S. 233) Ich bin fest überzeugt, daß die Literatur nicht am Ende ist. Nicht deswegen weil es schon Bildschirmliteratur gibt. Freilich kann es nicht folgenlos bleiben, wenn junge Leute zwar 9 Minuten am Tag lesen, aber 136 Minuten fernsehen. Es ist nicht ungefährlich, weil bei einem solchen Konsum die Sprechfähigkeit zurückgeht. Wir wissen in der Zwischenzeit auch, daß die Lesefähigkeit dramatisch abnimmt. Aus Betrieben wird uns berichtet, daß 15% der Lehrstellenbewerber als nicht vermittelbar gelten, weil ihre Lese- und Schreibkenntnisse nicht ausreichen. Die Zahl der in der Sprachentwicklung gestörten Kinder nimmt zu. Auch wenn es dafür sicher verschiedene Gründe gibt - ein wesentlicher Grund besteht sicher darin, daß wir den vollen Blick auf die ganze Wirklichkeit behalten. Das wohlfeile Konsumentenglück kann in der Tat verdummen, wenn wir die geistige Anstrengung systematisch scheuen würden. Wir brauchen freilich den Mut zur geduldiger, meditativer Aneignung. Wir dürfen die lustvollen Anstrengungen geistiger Durchdringung nicht scheuen. Wir dürfen nicht alles der Unterhaltung unterwerfen und an ihr messen. Unsere Augen werden sonst nicht mehr in der Lage sein, Leid wahrzunehmen. Aber wir brauchen eine neue Lesekultur, gerade auch wenn wir Computertechnik und Telekommunikation täglich nützen. Wir dürfen die Ambivalenz nicht übersehen, die z.B. gerade auch beim Gebrauch der neuen Medien in der Pädagogik unübersehbar ist. "Die Schule kann die Computer nicht einfach ignorieren. Sie kann ihnen aber auch nicht einfach die Tore öffnen, bevor sie weiß, wie sie ihre alte Aufgabe an den neuen Gegenständen erfüllt. Da steht ihr noch sehr viel Nachdenken bevor. Die Computer, die in den Messehallen auf Einlaß warten, nein drängen, nehmen ihr dieses Denken nicht ab." (H. von Hentig, Das allmähliche Verwinden der Wirklichkeit, S. 46) Sonst können wir Horror und Faszination, aber auch Grausamkeit der Bilder nicht bewältigen.

Lesen heißt Sichsammeln, das zum Denken führt. In diesem Sinne gehört der Gewinn und die Verteidigung der Freiheit, gerade auch des Denkens, zum Menschlichen. Gerade hier hat auch der Glaube, der den Menschen immer wieder auch vereinzelt und zur Verantwortung ruft, eine tiefe humane Aufgabe. Immer wieder müssen die Götzen und Ideologien entlarvt werden. Sonst können wir auch unsere politische Freiheit auf die Dauer nicht verteidigen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich freue mich, daß ich diese Gedanken Ihnen vermitteln durfte. Ich bin nicht nur ein großer Freund des Buches. In meinem relativ großen Haus ersticke ich fast an Büchern, aber ich liebe sie auch. In meinem Bischofswappen habe ich die Bibel als ein aufgeschlagenes Buch, ein geöffnetes Buch, das nicht einfach wie im Museum abgestellt wird, sondern es soll ein Buch sein, das zum Lesen ermutigt und zum Leben sowie Denken führt, ähnlich wie es Augustinus im Zusammenhang seiner Bekehrung erfahren hat: Tolle, lege! Nimm und lies!

Bischofswappen - Bischof Prof. Dr. Dr. Karl Lehmann, Mainz

Bibliothekare haben, so glaube ich, gerade heute eine große Chance, in dem sie die Möglichkeiten beider Bereiche pflegen: Der klassischen Lesekultur und der neuen elektronischen Möglichkeiten. Sie haben die große Aufgabe, daß eine nicht zu tun ohne das andere. Die Spannung ist dabei nicht zu übersehen. Ich wünsche Ihnen für diese Aufgabe viel Mut und auch die institutionellen Möglichkeiten. Mut hat es dazu wohl immer gebraucht. Die Kunst des Lesens ist zu einem Problem geworden - aber war es je anders?



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Letzte Änderung: 27.05.1999

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Text: Bischof Prof. Dr. Dr. Karl Lehmann, Mainz
Gestaltung: Christina Willaredt

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