VIERTES KAPITEL

DAS STAUNEN ALS URSPRÜNGLICHER WAHRHEITSVOLLZUG

§ 1. Vorbemerkungen

1.1 "Methodische" Vorüberlegungen

Es hat sich nicht nur die Abkünftigkeit des Zweifels, sondern auch die von Frage und Urteil gegenüber einer vorausgesetzten ursprünglicheren Weise der Offenbarkeit des begegnenden anderen gezeigt. Die gültige Wahrheit des begegnenden anderen bleibt nicht nur im Zweifeln und in der Frage, sondern auch im Urteil so lange in der Schwebe - und diese Setzungen selbst alle bleiben so lange in der offenen Frage nach ihrer Rechtmäßigkeit -, wie nicht die Setzungen des Subjekts auf den Modus ursprünglichster Offenbarkeit als den Rechtsgrund und die vermittelnde Wahrheit dieser Setzungen reflektiert sind.

Wie soll das Denken nun aber den Rückgang auf die ursprüngliche Offenbarkeit des begegnenden anderen leisten können, wo es in seiner Reflexion doch beim Zweifel an der Wahrheit des anderen ansetzte und die Notwendigkeit des Rückgangs auf eine ursprünglichere Wahrheit sich gerade daraus ergab, daß der Zweifel sich ernst nehmen mußte (1)?

Wohl hatte sich das zweifelnde, fragende, urteilende Denken als Zeugnis einer solchen ursprünglichen Offenbarkeit des begegnenden anderen im Lichte absoluter Wahrheit verstehen müssen. Und insofern mit den genannten Vollzügen die ganze Phänomenalität der faktischen Selbsterfahrung des reflektierenden Denkens beschrieben wäre (2). Müßte das reflektierende Denken seinen eigenen Ursprung und Rechtsgrund außerhalb dieser seiner Faktizität suchen - ohne daß es dabei aus seiner geschichtlichen Wirklichkeit heraustreten darf, will es nicht doch wieder idealistisch sich mit dem absoluten Denken selbst zusammenschließen. Weist das Denken aufgrund seiner Selbsterfahrung sowohl jenes idealistische absolute Selbstverständnis ab, das nie zureichend die Möglichkeit seiner faktischen Hinfälligkeit und Not zu erklären vermag, wie auch die Versuchung, sich positivistisch bei seiner Faktizität zu beruhigen und damit seine absolute Bestimmtheit zu vergessen, dann ist es auf die Suche

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nach einer ursprünglichen Wahrheit verwiesen, die sowohl die absolute Bestimmtheit des Denkens durch das andere als auch die Möglichkeit der faktischen Verborgenheit der Wahrheit des anderen und damit die Not des Subjekts erklärlich macht. Wie soll das Denken aber auf diese Suche gehen?

Von vornherein schließt sich ein solches methodisches Vorgehen aus, das die ursprüngliche Wahrheit des Denkens verifizieren wollte. Das verifizierende Denken erweist sich, indem es den methodischen Zweifel impliziert, durchaus als ein abkünftiger Modus des Wahrheitsvollzugs. Ebenso ergeht es jedem anderen Versuch objektivierenden Feststellens. Die Objektivation als innere Struktur des Urteils teilt dessen Abgeleitetheit von einer ursprünglichen Wahrheit. jede methodische Anweisung scheint letztlich zu spät zu kommen, da sie bereits einen bestimmten Hinblick und damit die Abstraktion aus einem früheren Ganzen voraussetzt.

Das Denken muß um seiner eigenen Wahrheit willen für einen Augenblick" aus dem ihm vertrauten Wahrheitsideal wissenschaftlicher Ausrichtung heraustreten und sich also auf "Un-" oder "Vor-Wissenschaftliches" einlassen. Es muß sich auf das Ganze seines Bewußtseins sammeln, um sich aus der einigenden Tiefe all seiner Gewußtheiten und Fragwürdigkeiten zu verstehen.

jedem, der nicht ganz an dem Ethos unserer Zeit vorbeilebt, wird bei solchen oder ähnlichen Worten die Schwierigkeit heutigen Philosophierens bewußt werden: der Zwiespalt zwischen Wahrheit und Schein, der sich in unserer Sprache austrägt. jedem, der nicht ganz in die bloße Vordergründigkeit technischen Verhaltens" verstrickt ist, leuchtet irgendwo wohl die Notwendigkeit eines Selbstüberstiegs wissenschaftlichen Denkens und Sagens auf. Wohin aber gerät dann das Denken und Sagen? In das Feld eines zwar lebendigeren und den Menschen tiefer erfassenden Sprechens, in dem aber die großen Worte verdächtig erscheinen und das begeisterte Pathos allzu leicht pathetisch d. h. leer wird. Es ist doch nicht nur die eigene Verfallenheit an vordergründige Objektivationen, die dem heutigen Denken eine Zurückhaltung gegenüber einer philosophischen Sprache auferlegt, die offensichtlich zwar aus neu und tief bedachten Gründen herkommt, aber zugleich Beweis für die Schwierigkeit der begeisteten Rede ist, auf ihrer Höhe die ebenso wirklichen Dunkelheiten für das Denken mitzusagen.

1.2 Das Verhältnis unserer Untersuchung zu dem Werk Gustav Siewerths

Wenn ich mich bei den folgenden Überlegungen vor allem von dem Denken Gustav Siewerths leiten lasse, dem ich wohl die wesentlichsten

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Leitgedanken meiner Arbeit verdanke, so tritt hier - gerade auch im Hinblick auf das eben Gesagte - die Schwierigkeit auf, die eigenen Intentionen gegenüber manchen Zügen in seinem Werk abzugrenzen, denen ich nicht zustimmen kann.

G. Siewerth ist, soweit ich sehe, der erste, der, in der scholastischen Tradition stehend, einen transzendentalphilosophischen Entwurf der "Erkenntnismetaphysik" vorgelegt hat, welcher von vornherein die Apriorität" der Wahrheit aus dem Ganzen der Wirklichkeitsbegegnung versteht (3). Im Denken der Maréchalschule-" verbleibt das- Apriorische der Wahrheit letztlich doch im Raum der Subjektivität, d. h. der zwar behauptete Zusammenschluß von Idealität und Realität im Lichte des Seins entbehrt einer tragfähigen Begründung, wie wir im zweiten Abschnitt dieser Arbeit in der Auseinandersetzung mit einigen hervorragenden Vertretern dieses Denkens zu zeigen versuchten.

Wenn wir im Gegensatz zu Siewerth nicht bei der "exemplarischen Identität" von Vernunft und Seiendem im Kichte des Seins ansetzten, sondern die Wirklichkeit einer solchen Identität zunächst als Möglichkeitsbedingung auch des gegenüber der Realität am meisten entfremdeten Denkens, des Zweifels, aufzuweisen suchten, um von dorther erst den Rückgang auf eine ontologisch frühere Helle des Denkens zu vollziehen, so hatte dies nicht nur methodisdi-kritische" oder gar pädagogische" Gründe. Die von der Fülle sinnlich vermittelter Wahrheit entfernte, wirklichkeitsfremde" Weise des Denkens ist doch eine Weise des Seins selbst (4), und es ist nicht damit getan, das Schicksal der Metaphysik" als einen tatsächlichen Abfall der Vernunft, als Irre" aufzuweisen. So sehr auch die Frage nach der Dunkelheit der faktischen Vernunft in das rational unergründbare Geheimnis der Freiheit und letztlich in das mysterium iniquitatis" weist, lassen sich vielleicht doch mehr, als dies bei Siewerth zum Tragen kommt, bereits aus der Offenbarkeit des begegnenden anderen selbst, d. h. aus seinem Sein, Gründe für das Selbstverlieren" der Vernunft in ein objektivierendes, verfügenwollendes Denken ableiten, das damit zwar gegenüber einer ursprünglichen Helle entfremdet", nichtsdestoweniger aber seinsgerecht" ist.

Dies kann jedoch, gemäß dem Ziel unserer Untersuchung, nur in Unterordnung unter die Frage nach der Möglichkeit von Offenbarung verfolgt

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werden. Aus dem Entwurf unserer Arbeit ergibt sich auch der gegenüber Siewerth verschiedene systematische Ort der Frage nach der "natürlichen Gotteserkenntnis" (5). Wie wir selbst die Unterordnung der philosophischen Gottesfrage unter die nach der Möglichkeit von Offenbarung" sehen, soll nicht an dieser Stelle angemerkt werden, da dem weiteren Verlauf der Untersuchung vorgegriffen werden müßte.

Besonders unsere folgende Analyse des Staunens weiß sich dem Denken G. Siewerths verpflichtet, auch dort, wo wir schließlich unseren eigenen Gedankengang von dem seinigen abgrenzen. Wie sehr dieses Denken auch im Raum der Theologie fruchtbar werden kann und sollte, braucht nach dem Erscheinen der ersten Bände von Hans Urs von Balthasars .Theologischer Ästhetik" nicht mehr gesagt zu werden (6).

1.3 Die grundsätzliche Aporie der Untersuchung

Aporien gehören eigentlich an das Ende einer Untersuchung. Insofern eine Aporie das Ganze des Bedachten bestimmt, darf man sie ebensogut - aus der Retrospektive - an den Anfang einer Arbeit stellen. Wir wollen die grundsätzliche Aporie unserer Untersuchung an dieser Stelle kennzeichnen, also gleichsam mittendarin".

Hier, wo der Schritt des reflektierenden Denkens in seinen Grund zu erfolgen hat, einen Grund, der zugleich die erkannte Möglichkeit von Offenbarung darstellen soll, muß ja die ganze Problematik sichtbar werden, die ein Denken belastet, das als Theologie philosophisch und als Philosophie theologisch sein, das - in strenger philosophischer Reflexion, weil aus theologischen Gründen hierzu genötigt - die Möglichkeit von Offenbarung" aufweisen will, eine Möglichkeit, die wie jede andere nur aus einer vorgängigen Wirklichkeit erkannt werden kann.

Die Schwierigkeit des Überstiegs des reflektierenden Denkens in seinen Grund - der nicht mehr Reflexion sein kann, weil sich diese als abkünftig erweist - wurde oben bereits angedeutet und wird auch im folgenden

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noch weiter bedacht werden müssen. Hier aber soll diese Schwierigkeit als grundsätzliche Aporie gekennzeichnet werden.

Den Grund des Denkens bildet - wie aus der Reflexion auf die Möglichkeitsbedingungen von Zweifel, Urteil und Frage hervorging - eine ursprüngliche Offenbarkeit des begegnenden anderen im--Lichte absoluter Wahrheit", die in der Weise das reflektierende Denken als von ihr abkünftig bestimmt, daß sie zugleich vergessen werden kann. Bricht das Denken aus dem Zweifel an allem auf diesen Grund hin auf, so muß es sich also auf etwas Vergessenes zu besinnen suchen.

Es kann sich guten Mutes auf diesen Weg machen. Denn was das Ich in all seinen Vollzügen bestimmt, kann wohl vergessen", nicht aber verloren sein. Bleibend bestimmen kann das Denken nur etwas, indem es zugleich das Eigene des Ich bleibt. Das Denken braucht also nur auf sein Eigenes zurückzugehen, um seinen Grund und Ursprung zu finden.

Nun soll der Grund aber die ursprüngliche Wahrheit sein, in der die absolute Wahrheit so für das Ich ist, daß sie zugleich identisch mit dem begegnenden anderen ist. Ist diese ursprüngliche Wahrheit aber identisch mit dem wirklich anderen des Ich, so ist sie dem Ich begegnende Freiheit (7).

Ist sie aber als solche die ursprüngliche Wahrheit des Ich, so muß es von vornherein unausgemacht bleiben, ob das Denken durch eigene Anstrengung in seinen Grund zurückfindet. So sehr die ursprüngliche Wahrheit der bleibend bestimmende Grund des Denkens und damit das Ureigenste des Ich selbst ist, ist sie zugleich begegnende Freiheit und darum unverfügbar für das Ich.

Liegt hier eine grundsätzliche Aporie für das Denken überhaupt, das bei seiner ursprünglichsten Wahrheit sein will, so ist diese Aporie nun noch näher im Hinblick auf unsere Untersuchung zu kennzeichnen.

Bestimmt man das, was zum Ureigensten des Denkens gehört, als den Bereich der Philosophie, und das, was dem Denken aus der absoluten Wahrheit als begegnender Freiheit zukommt, als Gnade und deren Bedenken als Theologie, so ist die Unterscheidung zwischen Philosophie und Theologie für den Schritt des Denkens, in dem es ihm wirklich gelingt, auf seine ursprünglichste Wahrheit zurückzugehen, nur noch eine methodische. Da der Ursprung der Wahrheit des Denkens zugleich ein Vollzug [Voll-

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zug] begegnender (absoluter) Freiheit ist, kann es dem Denken nur kraft dieser Freiheit gelingen, diesen Ursprung zu wissen: Das Gelingen ist als Bewußtsein des Eigenen philosophisch", als Gabe begegnender Freiheit "theologisch" zu nennen.

Daß hier mit dem Begriff einer theologia naturalis" auch in einem weitesten Sinne nicht mehr zu helfen ist, erhellt sogleich, wenn wir den Begriff der Gnade theologisch noch einmal differenzieren. Ist nämlich das Aufheben der Differenz zwischen faktischem und ursprünglichem Denken, welche wir oben als ,Vergessen" bezeichnet haben, unverfügbar nicht nur (überhaupt) aufgrund der Freiheit der absoluten Wahrheit, sondern (insbesondere) aufgrund eines Aktes des freien Ich gegen diese begegnende Freiheit, Schuld genannt, dann bleibt es über das Gesagte hinaus unausgemacht, ob das Wiedererkennen des Ursprungs als Wiedererkennen des Ureigensten des Ich Philosophie", als Wiedererkennen aufgrund eines freien Gewährens der absoluten Wahrheit lleologie" - Werk einer aus dem Urstand verbliebenen" Gnade oder der Erlösungsgnade sein wird. Von hierher ergibt sich dann - im Zusammenhang mit den im einleitenden Teil, § 2, vorausgeschickten Bemerkungen - die Einsicht, daß die aus der Theologie entworfene Philosophie zur Lösung der Frage nach der Möglichkeit von Offenbarung immer auf eine korrespondierende theologische Arbeit verwiesen ist, soll die Erfüllung ihrer Aufgabe gelingen: Aus dem Zentrum der Christologie (und im Blick auf die ekklesiologische Vermittlung der Offenbarung in Jesus Christus) muß bedacht werden, wie das seines Ursprungs vergessene Denken wieder zur Helle geführt werden kann.

Was immer im folgenden über den ursprünglichen Wahrheitsvollzug des Denkens ermittelt wird, kann sich daher nur als eine Annäherung (8) verstehen, die nicht nur hinsichtlich des philosophischen Ergebnisses vorläufig bleibt (da der Ursprung nicht adäquat eingeholt ist), sondern auch der theologischen Kritik untersteht (ob nämlich das Denken aus der Helle kommt, die allein den Ursprung reflektierbar macht).

ANMERKUNGEN

1 S. o. Kap. II, § 4.

2 Wir sind hier allerdings nur auf die Grundstruktur der Phänomenalität des Denkens eingegangen, wie sie sich der theoretischen Reflexion darbietet. Eine zureichende "Phänomenologie des Geistes" müßte die konkrete Entfaltung dieser (theoretisch formalisierten) Vollzüge, vor allem deren praktische Bestimmtheit ans Licht heben.

3 S. bes. die grundlegenden Ausführungen Siewerths in dem 1948 erschienenen Teil seiner Habilitationsschrift: Die Apriorität der menschlichen Erkenntnis, vor allem 127 ff. und den späteren Aufsatz: Die transzendentale Selbigkeit und Verschiedenheit des ens und des verum bei Thomas von Aquin, in: Grundfragen 92-107.

4 Das Erkennen bedeutet eine ausgezeichnete Weise des Seins selbst und ist daher in der Frage nach dem Sein als solchem immer mitbefragt" (G. Siewerth, Der metaphysische Charakter des Erkennens 18).

5 In Siewerths systematischem Hauptwerk, dem "Thomismus als Identitätssystem", scheint die Möglichkeit der Gotteserkenntnis für die deduktive Entfaltung der Seinsemanation immer schon vorausgesetzt. Der hieraus resultierende Vorwurf, Siewerths Philosophie setze bereits vollendete Theologie zu ihrer Einsichtigkeit voraus, besteht allerdings nicht zu Recht, weil Siewerth - wenn auch an einem späteren" Ort innerhalb der Systematik (im Kap. X des Thomismus") - eine philosophische Begründung der Gotteserkenntnis vorlegt. Besser wird die richtige Reihenfolge" des spekulativen Aufweisens in Das Sein als Gleichnis Gottes" deutlich, der wohl prägnantesten Skizze Siewerthscher Metaphysik. Vgl. auch den zweiten, erst posthum veröffentlichten Teil von "Die Analogie des Seienden", bes. 79-83.

6 "Ohne ihn (sc. Gustav Siewerth) hätte der dritte Band von 'Herrlichkeit' seine Gestalt nicht bekommen" (H. U. v. Balthasar, Rechenschaft 1965, 36).

7 Diese Feststellung erscheint hier notwendig unvermittelt, da in unserer Arbeit die Frage nach der interpersonalen Struktur von Offenbarung nicht thematisch wird. Im Horizont transzendentalen Fragens ist jedoch leicht einsichtig zu machen, daß ein das Ich wirklich bestimmendes anderes notwendig Projektion eines anderen Bewußtseins ist. Bewußtsein kann nur durch Bewußtsein, nicht durch bloß faktisches An-sich-sein bestimmt werden. - Vgl. die ausgezeichnete Analyse von E. Simons, Philosophie der Offenbarung 87-92.

8 Auch ein Sprechen aus dem Zentrum der Theologie auf die ursprünglichste Wahrheit des Denkens hin kann sich nur als Annäherung verstehen, da die ganze ursprüngliche Helle des Denkens erst adäquat aus der Vollendung der Offenbarung und endgültigen šberwindung der Finsternis" im Eschaton eingeholt werden kann.


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