Albert Raffelt

Das Graduale aus Martin Gerberts "Missa in Coena Domini"

Nach der Akademieveranstaltung zu Martin Gerberts wissenschaftlichen Werk am 31. Oktober 1993 in Freiburg wurde die von Gerbert komponierte "Missa in Coena Domini" von Mitgliedern des Freiburger Domchors unter der Leitung von Domkapellmeister Msgr. R. Hug in der Freiburger Universitätskirche aufgeführt. Sieht man von der engagierten Pflege des Werks von M. Gerbert in St. Blasien ab, könnte es sich um eine Erstaufführung gehandelt haben. Das Werk ist jedoch in seiner historischen Stellung so interessant und besitzt auch musikalische Qualitäten, die die Wiedergewinnung zumindest einzelner Sätze für die kirchenmusikalische Praxis sinnvoll erscheinen lassen. Im Originaldruck stehen dem die alten Schlüssel sowie die für heutige Praxis ungünstige Verteilung der Systeme und die Art der Textierung entgegen. Für die Aufführung wurde daher die Partitur neu geschrieben. Im folgenden soll ein Ausschnitt daraus vorgestellt werden, der ggf. auch als Kopiervorlage benutzbar ist [ 1 ].

Unter den vielen Professionen Gerberts ist diejenige als Komponist wohl am wenigsten bekannt, während seine Bedeutung als Musikwissenschaftler bzw. Musikhistoriker durch die von ihm gesammelten und edierten mittelalterlichen Musiktraktate [ 2 ] oder durch seine zusammenfassende Darstellung De cantu et musica sacra, a prima ecclesiae aetate usque ad praesens tempus [ 3 ] anerkannt und gesichert ist. An den einschlägigen lexikalischen Darstellungen läßt sich das leicht verifizieren [ 4 ]. Diese Einschätzung ist durchaus berechtigt, denn das kompositorische Werk Gerberts ist klein und in gewisser Weise auch zufällig. Es umfaßt als Jugendwerke zwölf Offertorien [ 5 ] und als Spät- bzw. späteres Werk nur die Missa in Coena Domini. Die im Anhang von De cantu... mitgeteilte Messe erscheint dort ohne Verfasserangabe. Schon Zeitgenossen haben den Abt nach dem Komponisten befragt [ 6 ]. Leider ist die Antwort nicht erhalten. Daß der Freiburger Dogmatiker Engelbert Klüpfel sie 1775 [ 7 ] - im Jahr nach der Veröffentlichung - mit einer unzutreffenden Beschreibung der Kompositionsweise [ 8 ] dem Abt zuschreibt, scheint dennoch glaubwürdig [ 9 ], da ein solches Faktum wohl eher falsch referiert wird als eine Zuschreibung. Die anonyme Präsentation einer fremden Komposition entspräche im übrigen wohl nicht dem Stil Gerberts. Trotzdem: Eine letzte Klarheit durch ein direktes Zeugnis Gerberts gibt es nicht, wohl aber eine große Wahrscheinlichkeit.

Die Gründonnerstagsmesse umfaßt 10 Sätze. Neben dem Ordinarium enthält sie auch den Introitus (Nos autem gloriari oportet...), das hier mitgeteilte Graduale, das Offertorium (Dextera Domini fecit virtutem...) und die zweistimmige Communio (Gustate et videte).

Die Sätze 1-7, 9 sind doppelchörig angelegt. Das Benedictus ist dreistimmig. Der Instrumentalbaß ist im allgemeinen ad libitum gedacht (vgl. die Bezeichnung beim Introitus: Bass. Princip. ad libitum) und fehlt bei Benedictus und Communio. Größere Selbständigkeit und damit wohl aufführungspraktische Notwendigkeit hat er nur im Gloria, in dem sogar drei Orgeln eingesetzt sind (Organ. in I.mo/II.do Choro ad libitum; Organ. Princip.). Die größere Prachtentfaltung entspricht der liturgischen Stellung des Satzes im Gründonnerstags-Formular. Anders als in den anderen Sätzen eröffnet die Hauptorgel das Stück mit einem selbständigen bewegt-fallenden Tonleiter-Motiv in einer Achtel-/Sechzehntel-Bewegung, die entsprechend beibehalten wird und für den Bewegungsverlauf wichtig ist.

Das beigefügte Graduale ist dagegen einerseits von großer Schlichtheit. In anderen Sätzen mag die Verwendung expressiver Figuren eindrucksvoller ("non moriar" im Offertorium) oder auch die Satztechnik entwickelter sein. Dennoch ist das Graduale von eindrücklich konzentrierter Wirkung. Die Auswahl gerade dieses Satzes - abgesehen von seiner Kürze und praktischen Verwendbarkeit - hat aber noch einen anderen Grund. Er zeigt sehr deutlich das sachliche Interesse, das hinter Gerberts liturgischen Kompositionen steht.

Über die kirchenmusikalischen Ansichten Gerberts sind wir durch De cantu... wie durch seine Korrespondenz in vieler Hinsicht informiert. Sie zielen auf eine Reform der Kirchenmusik, die abrückt von allem Theatralischen. Verschiedene einzelne Stellen aus den Briefen dazu hat G. Birkner gesammelt [ 10 ]. Ein Haupttext - am 27. 4. 1775, also im Jahr nach Erscheinen von De cantu... geschrieben - sei allerdings auch hier nochmals wiedergegeben. Gerbert schreibt an den Abt von Ochsenhausen: "Mich erfreuet inniglich, daß E. f. Gn. ein Gefallen an meinem Werk ,de cantu' etc. tragen. Ich wünsche nichts sehnlicheres, als etwas von dem zu erzielen, wegen welchem ich diese Historie von der Kirchenmusik mit vieler Mühe und Arbeit beschrieben habe, um dadurch den erstaunlichen Mißbrauch in dieser Sache vor Augen zu legen, welcher meines Erachtens der größte in unser Kirchendisciplin ist; und dieses besonders in denen Klösteren, welches in Schwaben, wo man unter Protestanten untermischet ist, welche bei weitem nicht so in diesem Stuck excediren als wie die Katholiken und Religiosen, nicht anderst als anstößig sein kann. Ich habe hier immer Krieg mit meinen Musikanten, und würfe ihnen zuweilen ihren Kram ins Feuer, habe ihnen auch die Kapitel, welche eigentlich von der Disciplin des Gesanges in dem ersten, mittleren und letzten Alter der Kirchen handeln, über Tisch lesen lassen, und im Kapitel noch eine Brühe darüber gemacht, welches endlich und endlich etwas verfangen thuet. Allein seind halt die mehreste Kompositionen schon so zum Tanzen und Springen eingerichtet, mehrenteils von jungen Geistlichen und Studenten sogenannten Gassenhauer verfertiget. Die von einem Caldara, Jacobi, Eberlin etc. mannlich gemachte werden unter die alten Kartetschen geworfen oder auf der Post daher gemacht, daß nur der Violinist sein Rockis Bockis geschwind wie der Wind zeigen, der Vokalist aber seine Gurgel zum waschen und der Blasintrumentist seine mit Feld- und Waldmusik ermüdete Zunge, Lungenblätter und Lefzen zum anfeuchten recht zurichten kann, dem Zuhörer aber mit allem Gewalt alle Aufmerksamkeit benommen und die Andacht mit ganzem Fleiß gestöret werde, gleich als wären die Musikanten von dem Bösen, behüet uns Gott, angestellt, den wahren Gottesdienst zu verderben, den Tempel Gottes, wo Christus in dem heiligen Sakrament gegenwärtig und in der heiligen Meß aufgeopferet wird, zu entheiligen, zu einer Schaubühne oder wohl gar Tanzplatz zu machen..." [ 11 ]. In De cantu... klingt es vornehmer, wenn Gerbert für eine Kirchengesang plädiert: "... in quo verba apte cohaerent, atque intelligiblis vox verborumque sensus sese insuinuat animo" [ 12 ], die Worte also mit der Musik zusammenstimmen und der vernünftige Sinn der Worte sich in die Herzen einprägt.

Die Sätze sind aufschlußreich für die praktische Absicht, die hinter Gerberts Schriften zur Liturgie wie seinen Arbeiten zur Kirchenmusik generell steht und die z.B. auch zur Reform liturgischer Bücher führte. Das Lob alter Meister - Erfahrungen aus seinen Italien-Reisen kommen ihm hier zugute - zeigt, daß die Reformen Gerberts an Muster - nämlich die italienische Vokalpolyphonie - anzuknüpfen suchen. Hierin liegt der Punkt der Vergleichbarkeit mit dem späteren Cäcilianismus des 19. Jahrhunderts, wobei die geistesgeschichtlichen Rahmenbedingungen der (Nach-)Romantik durchaus anderer Art sind und man Gerbert nicht ohne weiteres historisierendem Komponieren des 19. Jahrhunderts vergleichen kann. Gerbert steht noch in der barocken rhetorisch-musikalischen Kompositions-Tradition. Der große Traditionsbruch liegt nach ihm. Seine Art der rhetorischen Textauslegung wird auch in diesem Graduale an manchen Stellen deutlich: Der leer klingende Undezimenabstand zwischen Sopran und Alt bei "mortem/Tod" (T.13), die Stimmenkreuzungen bei "exaltavit illum/erhöhte ihn" und "super/über", wo der Baß über dem Tenor liegt (T. 41 u. 50), der "umfassende" Oktavsprung (Diapason) bei "omne/alle" (T. 49, 51, 52)... - Daß Gerbert ganz andere Wege propagierte, als sie in den nun bald erscheinenden großen Mess-Kompositionen der Wiener Klassik eingeschlagen wurden, macht die dennoch gegebene relative Nähe zur katholischen cäcilianischen Kirchenmusik des 19. Jahrhunderts allerdings um so frappierender. In De cantu... konnte er dazu noch nicht Stellung nehmen. Seiner umfassenden Information war aber das spektakuläre Auftreten des jungen Wolfgang Amadeus Mozart (* 1756) schon damals nicht entgangen [ 13 ].

Zum Notentext: An zwei Stellen wurden Änderungen vorgeschlagen. Hier die Informationen über den Originaldruck. - Jeweils Chor I: T. 34, Tenor Ganze a: Das wäre eine unvollkommene Harmonie auf dem Wort "Gott"; T. 47: Alt Halbe f', Ganze d', Baß Ganze b, Halbe b, Tenor Ganze b, Halbe g: Quintparallelen Alt/real klingender Baß; Generalbaß punktierte Ganze b. - Auf ein Aussetzen des ad lib. Generalbaß wurde verzichtet, da der Chorsatz leicht mitgegriffen werden kann.







Anmerkungen

[ 1 ] Für Hilfe bei dieser Arbeit danke ich Herrn Reiner Raffelt, Weilerswist.

[ 2 ] M. GERBERT: Scriptores ecclesiastici de musica sacra potissimum. St. Blasien 1784. Nachdruck Hildesheim : Olms, 1963. Durch die Aufnahme einiger der Texte in die Patrologia latina sind Gerberts Editionen faktisch noch wesentlich weiter verbreitet.

[ 3 ] 2 Bde. St. Blasien, 1774. Nachdruck Graz : Akadem. Verlagsanst., 1968

[ 4 ] Vgl. etwa H. HÜSCHEN: Gerbert. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Bd. 4. Kassel : Bärenreiter, 1955, Sp. 1783-1786.

[ 5 ] Remigius KLESATL ; M. GERBERT: XXIV Offertoria solennia in festis Domini, B. Virginis et quorumvis Sanctorum. Augsburg 1747. Nachweise in RISM : Recueil imprimés XVIIIe siècle. München 1964, S. 273; eine Kopie der 12 Offertorien von M. GERBERT aus diesem Band befindet sich in der Universitätsbibliothek Freiburg unter der Signatur MP 4.83/44 (Geschenk von R. MORATH). Daß Gerbert weitere Werke komponiert hatte, die jedoch verbrannt waren, schreibt er 1779 selbst: M. GERBERT: Korrespondenz. Bd. 2. Karlsruhe 1934, S. 458; der Herausgeber der Korrespondenz, G. PFEILSCHIFTER, meint: "Vermutlich bei dem Klosterbrand von 1768". Zu Gerbert als Musiker vgl. auch Karlheinz WEISS: Das musikalische und musikgeschichtliche Werk. In: Martin Gerbert (1720-1793) : Fürstabt von St. Blasien. Ausstellungskatalog. Rastatt : Stadt Rastatt, 1989, S. 92-103.

[ 6 ] Vgl. M. GERBERT: Korrespondenz. Bd. 2, S. 146f.

[ 7 ] Nova bibliotheca ecclesiastica Friburgensis 1775, zit. von G. PFEILSCHRIFTER in M. GERBERT: Korrespondenz, Bd. 2, S. 146, Anm. 5.

[ 8 ] Der von ihm angesprochene Fauxbourdon-Stil findet sich aber immerhin im Introitus.

[ 9 ] Ich würde daher nicht meinen, daß "der Terminus Fauxbourdon hier eine Ausweitung erfahren hat, sie sie anderweitig bisher nicht belegt scheint"; so G. BIRKNER: Die Musikpflege im Kloster St. Blasien und Martin Gerberts Bemühungen um eine Reform der Kirchenmusik. In: Das tausendjährige Sankt Blasien ; 200jähriges Domjubiläum. Bd. 2. Karlsruhe : Badenia, 1983, S. 141-152, hier 144.

[ 10 ] G. BIRKNER: Die Musikpflege im Kloster St. Blasien und Martin Gerberts Bemühungen um eine Reform der Kirchenmusik, S. 141-152.

[ 11 ] M. GERBERT: Korrespondenz. Bd. 2, S. 110f. Kürzung in der Edition.

[ 12 ] De cantu..., Bd. 2, S. 408.

[ 13 ] Bd. 2, S. 372.


[zurück zum Dokumentanfang]

zurück zur UB-Homepage

http://www.ub.uni-freiburg.de/referate/04/raffelt/gerbert-graduale.html

Letzte Änderung: 20.07.2000