§ 2. Die Flucht aus der Verzweiflung

Aus dem Widerstreit der Erfahrung eines ursprünglichen Augenblicks des Staunens, in dem das begegnende andere so durchsichtig auf seinen absoluten Grund ist, daß es keine Grenzen gegen Gott aufreißt, und der Erfahrung von Grenze und Endlichkeit in demselben begegnenden anderen legen sich mannigfache Wege nahe, der notwendigen Verzweiflung auszuweichen.

1. Gebannt von der ursprünglichen Wahrheit, in der das begegnende andere und Gott für einen Augenblick eins waren, sucht der Mensch die Göttlichkeit des anderen auch da noch festzuhalten, wo seine Grenze und Endlichkeit hervorgetreten ist. Anstatt die Wahrheit der unendlichen und unbedingten Realität allein dem in die Verborgenheit zurückgetretenen Gott zu lassen und seine Ferne auszuhalten, macht er die endlichen Mächte zu Göttern, denen notwendig ebenso viele Dämonen an die Seite treten, da die Mächte ihre Grenze bis in das Fleisch des Menschen offenbaren.

2. Oder er wird, hellsichtiger für die Begrenztheit und Hinfälligkeit des anderen, das ihm geschichtlich begegnet, sich seines unendlichen Vorranges vor den Dingen bewußt. Da nur in der Idealität des Geistes sich die ursprünglich nicht weniger reale als ideale Unendlichkeit kraft des Gedächtnisses bewahrt, schließt der Mensch auf die unsterbliche Existenz der Seele. Der ursprünglichen Wahrheit, daß das Absolute sich in den begegnenden Wesen offenbarte, sucht er dadurch gerecht zu werden, daß er ein Ewiges und Unbedingtes aus ihnen abstrahiert, demgegenüber ihre weitere, "materielle" Wirklichkeit als Schein und Anfechtung erachtet wird. Es entsteht der Entwurf einer Weltbewältigung, in der der Mensch

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notwendig einen Teil des Wirklichen degradiert, um sich selbst angesichts des Todes behaupten zu können.

3. Oder er negiert, konsequenter in bezug auf die Hinfälligkeit der Dinge wie seiner selbst - die bis auf den Grund der Wesen reicht -, so radikal die Wahrheit der Differenz, daß er sie von Grund auf als Schein und Nichtigkeit, als "Maya" erachtet (1). Damit verstößt er aber nicht nur gegen die Wirklichkeit der Dinge in ihrer zwar begrenzten, aber doch offenbaren Positivität, sondern auch gegen die ursprüngliche Eröffnung des Absoluten selbst als "exemplarische Identität", das sich als absolut "eines" zwar, aber in Einheit mit einem gestalthaft begegnenden Wesen zeigte. Mit der Tilgung der Differenz bis auf den Grund wird schließlich auch ihre ursprünglichste Wahrheit negiert, daß die absolut vollendete Identität Akt einer frei sich gewährenden Huld ist. Das Streben nach Heil wird zur Selbsterlösung.

4. Oder aber der Mensch entweicht der Verzweiflung - in krassestem Gegensatz zu der eben skizzierten Flucht - in die zur Weltanschauung erhobene technische Lebenshaltung. Er erwartet eine helle Zukunft ausschließlich aus der "Objektivität" seines sich auf endliche Essenzen eingrenzenden Denkens (2) und des diese synthetisierenden Verfügens. Die Wahrheit der Apriorität der Vernunft und Freiheit gegenüber der endlichen Realität verbindet sich mit einem bloßen Relikt ursprünglicher Wahrheit des Seienden: die sich frei im begegnenden anderen gewährende und hinter es zurücktretende Absolutheit wird, da sie nirgends festzumachen, zu "verifizieren" ist, schließlich wenigstens in Grundelementen und beständigen Gesetzen des Materiellen vermutet. Im Vertrauen auf solche letzte absolute Größen unternimmt die frei verfügende Vernunft den gigantischen Versuch, im Banne der ihr vom Sein eingeprägten absoluten Idee, aus letztgültigen Elementen einen absoluten Kosmos zu erstellen. Weil die Spannung zwischen Unbedingtheit und Bedingtheit, Ordnung und Unordnung des in der Welt Begegnenden unerträglich scheint, negiert der Mensch die wirkliche Spannung, indem er die Natur zum Chaos erklärt, und erwartet eine absolute Vollendung nur noch aus dem eigenen Erstellen, nicht mehr dem begegnenden anderen.

Er verstößt damit nicht nur gegen die ursprünglichste Wahrheit, daß Vollendung freies Gewähren Gottes ist, sondern er kann sein Werk gar nicht anders unternehmen, als indem er die ihm aus der Natur sich darbietenden Kräfte und Ordnungen nutzt, sich immer also schon auf ein seiner Freiheit entgegenkommendes Gewähren bezieht.

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5. Im ausdrücklichen Gegensatz zu dieser Haltung wird die Wahrheit, daß Sein Huld ist, zwar im Denken Martin Heideggers wiedergewonnen (3). Das Sein selbst erscheint dabei aber letztlich als ein Abgrund völliger Indifferenz, aus dem sich das Geschick des Menschen als bergendes Heil wie als nichtendes Nichts zuspielt(4), so daß letztlich keine gültige Aussage über Eigentlichkeit oder Uneigentlichkeit mehr gemacht werden kann (5) und die Freiheit des Menschen in einer Allverfügung untergeht (6).

6. Wo hingegen - wie bei Albert Camus - hellsichtig die Absurdität des Daseins im Nachdenken des Mythos von Sisyphos in den Blick genommen wird - die Absurdität als Verfügtsein des Menschen aus dem Absoluten ins Absolute, dem er aber nur endlich-relativ entsprechen kann -, da droht zwar auch das Ausweichen in einen Trotz, der der Wahrheit des Zwiespalts nicht standzuhalten vermag - die oben (7) zitierte Betrachtung über Sisyphos endet mit den Sätzen:

"Ich verlasse Sisyphos am Fuße des Berges! Seine Last findet man immer wieder. Nur lehrt Sisyphos uns die größere Treue, die die Götter leugnet und die Steine wälzt. Auch er findet, daß alles gut ist. Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jedes Gran dieses Steins, jeder Splitter dieses durchnächtigten Berges bedeutet allein für ihn eine ganze Welt. Der Kampf gegen den Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen." (8)

Dort winkt aber stets auch, solange nur die Wahrheit des Staunens durchgehalten wird, die wahre Verzweiflung.

"Gewitterhimmel im August. Glühende Winde. Schwarze Wolken. Im Osten jedoch ein zartblaues, durchsichtiges Band. Unmöglich, es anzuschauen. Es ist eine Pein für Augen und Seele. Denn die Schönheit ist unerträglich. Diese Ewigkeit von der Dauer einer Minute, die wir gleichwohl über alle Zeit hin ausdehnen möchten, sie läßt uns verzweifeln." (9)

ANMERKUNGEN

1 Vgl. G. Siewerth, Die Differenz von Sein und Seiend, in: Grundfragen 148-150.

2 Vgl. G. Siewerth, Schicksal 61 f.

3 Vgl. etwa H. U. v. Balthasar, Herrlichkeit III/1, bes. 775, 779 und die dortigen Stellenverweise.

4 Vgl. H. U. v. Balthasar, a.a.O. 784, 958 f.; G. Siewerth, Die Differenz von Sein und Seiend, in: Grundfragen 149 f., und den Gesamtzusammenhang seiner Auseinandersetzung mit M. Heidegger im "Schicksal der Metaphysik", Abschn. C (361 ff.).

5 Vgl. H. Wagner, Philosophie und Reflexion 336-338.

6 Auf die Schwäche der Antwort Heideggers angesichts der ausweglosen Sinnfrage hat besonders eindrücklich R. Lauth verwiesen: Die Frage nach dem Sinn des Daseins, bes. 339-349.

7 S. 144 Anm. 19.

8 Der Mythos von Sisyphos 101. - Wie anders dagegen der "Sisyphos" W. Borcherts zwischen Angst und Gnade: "Schischypusch oder der Kellner meines Onkels", in: "Draußen vor der Tür" u. ausg. Erz. 107-116.

9 A. Camus, Tagebuch Mai 1935 - Febr. 1942, Hamburg 1963, 13 f. (zitiert nach H. R. Schlette, Der Christ und die Erfahrung des Schönen, in: Weltverständnis im Glauben 89

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- Aus dem dortigen Zusammenhang wie auch aus dem Bezug auf A. Camus' "Sisyphos" in Schlettes Beitrag: "Zum Verhältnis von Philosophie und Theologie" geht hervor, daß Schlette den absoluten Entwurf Camus' - und damit wohl auch das Verhältnis von Philosophie und Theologie - anders wertet, als wir hier darzulegen suchten. Jedoch wird mehr Aufschluß darüber aus der von Schlette angekündigten umfangreicheren Arbeit über Camus zu entnehmen sein: Orient. 31 [1967] 219 A 3.)


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