EUCOR-Bibliotheksinformationen - Informations des bibliothèques: 10 (1997)
o....Résumé en français

Rainer Diederichs:

Bibliotheksszene Schweiz - Ausbildung im Umbruch: Vom Bibliothekar zum Informations- und Dokumentationsspezialisten

Zusammenfassung:

Steter Wandel gehört zur Ausbildung wie das Eigelb zum Ei. Seit 1993 entwickelt sich die bibliothekarische Ausbildung in der Schweiz jedoch in Quantensprüngen. Anvisiert werden durchgreifende Reformen der Berufsbildung im Bereich Information und Dokumentation (I+D). Der Strukturwandel ist mit der Bildung von Fachhochschulen eng verknüpft und vollzieht sich in ungewohntem Tempo. Die Hauptziele sind abgesteckt, der Hürdenlauf hat begonnen.


Résumé:

Si la formation professionnelle est par nature en mutation constante, depuis 1993 la formation des bibliothécaires en Suisse progresse elle à pas de géant. Des réformes radicales de la formation professionnelle dans ce domaine de l'information et de la documentation sont prévus. Le changement de structure est intimement lié à la création d'écoles supérieures professionnelles et se déroule à un rythme inhabituel. Les objectifs majeurs sont arrêtés, la course est engagée.


Die hauptberufliche Bibliothekarausbildung in der Schweiz verläuft bis heute zweistufig: Diplombibliothekare und wissenschaftliche Bibliothekare.

Der bibliothekarische Berufsverband BBS (Verband der Bibliotheken und der Bibliothekarinnen/Bibliothekare der Schweiz) bietet angehenden Diplombibliothekaren Ausbildungskurse in Bern, Zürich, Lausanne und im Tessin. Die Praktikanten haben in der Regel Maturabschluss und besuchen während der zweijährigen Ausbildungszeit an einer ausbildungsberechtigten Bibliothek den Kurs ihrer Region, der zwischen 400 und 440 Lektionen umfasst. Die Bibliothek wählt ihre Kandidaten aus und trägt die Ausbildungsverantwortung. Die Ausbildungs- und Prüfungskommission BBS wacht über die Einhaltung der Ausbildungsrichtlinien, organisiert die Prüfungen und erteilt das Diplom BBS aufgrund einer Arbeit im Umfang von 600 bis 800 Stunden. Die Ausbildungsberechtigung ist an Bedingungen geknüpft, so dass die Zahl ausbildender Bibliotheken begrenzt bleibt und ein Überangebot an Diplombibliothekaren vermieden wird. Dem Diplom BBS ist das Diplom der Ecole supérieur d'information documentaire (ESID) des Genfer Institut d'études sociales gleichgestellt. Diese sogenannte Genfer Schule bietet eine vielfältige Ausbildung von rund 1'800 Kursstunden für die Bereiche Bibliothek, Dokumentation und Archiv. Zur dreijährigen Ausbildung gehören sieben Monate Praktika und eine Diplomarbeit, die im letzten Semester angefertigt wird.

Seit 1987 gibt es eine zweijährige Ausbildung auch für wissenschaftliche Bibliothekare mit Hochschulabschluss. Die Zentralbibliothek Zürich führt in Jahren ungrader Zahl einen berufsbegleitenden BBS-Kurs von knapp 400 Lektionen durch. Ausbildungsberechtigt sind die Hochschulbibliotheken. Den Abschluss der Ausbildung bildet eine Prüfung ohne Diplomarbeit. Neben den Prüfungsteilnehmern können auch akademische Gasthörer oder erfahrene Diplombibliothekare den Kurs ganz oder teilweise belegen. Voraussetzung ist, dass sie von Bibliotheken delegiert werden. Die Faculté des Lettres der Universität Genf führt ebenfalls alle zwei Jahre eine berufsbegleitende Weiterbildung durch, die nach vier Semestern mit dem Certificat de formation continue en information documentaire (CESID) abschliesst. Teilnahmeberechtigt sind auch hier Personen mit Hochschulzeugnis oder Bibliothekarendiplom.

Die Nachdiplomstudien im Bereich Bibliothek und Dokumentation werden seit kurzem durch zwei weitere Möglichkeiten ergänzt. Der zweijährige BBS-Kaderkurs für Diplombibliothekare in Luzern vertieft die Grundausbildung vor allem im Bereich Management und Informatik. Die Ingenieurschule HTL in Chur bietet ein dreisemestriges Nachdiplomstudium I+D und wendet sich damit an Personen mit Ingenieurdiplom oder Hochschulabschluss sowie an berufserfahrene Mitarbeiter des Informations- und Dokumentationsbereichs. Beide Kurse finden einen Tag pro Woche statt; zur Durchführung gehören Projektarbeiten und Prüfungen.

Die nebenberufliche Ausbildung für Gemeinde- und Schulbibliothekare fächert sich in jüngster Zeit in eine Vielzahl regionaler Kurse auf. Die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der allgemeinen öffentlichen Bibliotheken (SAB) ist bestrebt, koordinierend und fördernd die Ausbildung weiterzuentwickeln. Wegbereitend für diese fruchtbare Ausbildungstätigkeit war der Zürcher Bibliothekarenkurs für Gemeinde- und Schulbibliothekare, der seit 1975 jährlich durchgeführt wird und mit einer Prüfung abschliesst. Auch diese Ausbildung erfährt gegenwärtig einen durchgreifenden Wandel. Statt eines Gesamtangebots von knapp 200 Lektionen wird der Kurs ab 1997 mit neuen Gewichtungen modular aufgebaut, bestehend aus Grundkursen (zweimal jährlich, 40 Lektionen), Aufbaukurs (einmal jährlich, 108 Lektionen) und Leiterkurs (alle zwei Jahre, 52 Lektionen).

Rahmenprogramm einer neuen Berufsausbildung

Bibliothekare, Dokumentare und Archivare haben seit Ende der achtziger Jahre vermehrt die Zusammenarbeit gesucht, um ihre soziale Anerkennung zu fördern. Auch wenn unterschiedliche Aufgabenbereiche bestehen, gleichen sich doch Arbeitsmittel und -methoden durch technischen Wandel immmer mehr an und verwischen Abgrenzungen der Berufssparten. So war es nur folgerichtig, auch für die Ausbildung nach Lösungen zu suchen, welche gemeinsame Ziele vorsehen. Die fachliche Kompetenz der Auszubildenden sollte verstärkt, die theoretischen Grundlagen sollten erweitert werden, um die Anpassungsfähigkeit an berufliche Veränderungen zu erhöhen und zwischen den Berufssparten grössere Durchlässigkeit zu erreichen. Eine langjährige Forderung der Bibliothekare war die offizielle Anerkennung ihres Berufes auf Bundesebene durch das BIGA (Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit). Die Ausbildung sollte in die Strukturen anerkannter Berufsausbildungen eingebettet werden und mit europäischen Anforderungen vereinbar sein. Das bisherige Milizsystem der Ausbildung, die Freistellung einzelner Berufsleute zur Betreuung kleinerer Ausbildungsgebiete, war an seine Grenzen gestossen. Deutlich erschallte der Ruf nach vermehrter Professionalität.

Darum wurde 1993 eine fünfköpfige Arbeitsgruppe gebildet, in der die drei Berufsverbände sowie die Genfer Schule und die HTL Chur vertreten waren. Ihr gelang es innerhalb eines Jahres, ein gesamtschweizerisches Rahmenprogramm für die integrierte Ausbildung von Bibliothekaren, Dokumentalisten und Archivaren zu erarbeiten und die Zustimmung der drei Berufsverbände zu erreichen. Diese ungewöhnlich kurze Zeit der Meinungsbildung wurde durch bevorstehende Änderungen der schweizerischen Berufsausbildung begünstigt: die Einführung einer Berufsmatura und die Schaffung von Fachhochschulen. Das Rahmenprogramm geht von einer dreistufigen Ausbildung aus, die mehr Durchlässigkeit vorsieht und neuen schweizerischen Ausbildungsstrukturen entspricht (s. Schema).

Den Status Informations- und Dokumentationsassistent(in) erreicht man nach einer dreijährigen Berufslehre. Mit dem eidgenössischen Fähigkeitszeugnis kann man die Berufsmatura erwerben, die wie die Gymnasialmatura zum Besuch der Fachhochschule berechtigt, die zum Status Informations- und Dokumentationsspezialist(in) führt. Als dritte Stufe ist nach Erlangung des Fachhochschuldiploms oder nach einem Hochschulabschluss auf Universitätsstufe ein Nachdiplomstudium I+D vorgesehen.

Zur Verwirklichung des Rahmenprogramms bildete sich im November 1994 eine Ausbildungsdelegation I+D aus je zwei Vertretern der Berufsverbände. Sie arbeitete mit den Instanzen auf Bundesebene und kantonaler Ebene zusammen und trieb durch Veranstaltungen und Informationen die Reformen zügig weiter. Im Vordergrund der Bemühungen stehen die beiden Etappenziele Berufslehre und Fachhochschulstudium.

I+D-Assistent(in) und I+D-Spezialist(in)

Die Berufslehre Informations- und Dokumentationsassistent(in) dauert drei Jahre mit einem Schultag pro Woche an einer Berufsschule. Der Unterricht umfasst 1080 Lektionen, die sich hälftig auf allgemeinbildende und fachspezifische Fächer aufteilen. Im einzelnen sieht der Lehrplan für den beruflichen Unterricht vor:

FächerLektionen
Informations- und Medienkunde40
Informationsverwaltung240
Kultur- und Wissenschaftskunde80
Arbeitstechnik, Informatik, Bürokommunikation120
Fachfranzösisch oder Fachitalienisch 80
Fachenglisch40
Allgemeinbildung360
Turnen und Sport120

Ergänzend zum Berufsschulunterricht besucht der Lehrling Einführungskurse, die von den Berufsverbänden getragen werden. Er soll das im Kurs Erlernte im Betrieb selbständig anwenden können. Die Kurse dauern in der Regel acht bis zwölf Tage in den ersten beiden Lehrjahren, vier bis acht Tage im letzten.

Während der Ausbildung arbeitet der Lehrling in einer Bibliothek, Dokumentationsstelle oder einem Archiv und führt, wie es heisst, die gängigen Arbeiten seines Betriebes aus, vor allem in den Bereichen des Benutzungsdienstes, der Ausrüstung und Aufbewahrung, der einfachen Erschliessung und der administrativen Arbeiten.

Reglement und Lehrplan sollen nach abgeschlossener Vernehmlassung im Sommer 1997 vom Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartement in Kraft gesetzt werden. Damit könnte die Ausbildung für eine neue Stufe der I+D-Berufe im Herbst 1998 beginnen. Die ersten I+D-Assistenten werden demnach im Herbst 2001 ihr Fähigkeitszeugnis erwerben, können ein Jahr darauf die Berufsmatura ablegen und allenfalls im Herbst 2002 mit dem Studiengang Fachhochschule beginnen.

Im Bereich I+D bewerben sich drei Schulen um den Status einer Fachhochschule: die HWV in Luzern, die HTL Chur und die ESID in Genf. Das ehrgeizige, unschweizerische Tempo bei der allgemeinen Fachhochschulreform hat jedoch einen Rückschlag erlitten. Die politischen Entscheide sind im Verzug und werden wahrscheinlich mit einjähriger Verzögerung erst 1998 gefällt. Trotzdem läuft der Count-down für die Fachhochschulausbildung Informations- und Dokumentationsspezialist(in) FH unbeirrt weiter. Die Bibliotheken werden wie vorgesehen auf Herbst 1997 Praktikumsplätze für Inhaber von Gymnasialmaturen anbieten. Das Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement hat wegen der Verzögerungen einer Übergangsregelung zugestimmt, so dass die geplanten Fachhochschulen zunächst ohne Zusicherung des neuen Titels starten und erst nachträglich anerkannt werden.

Das einjährige Vorpraktikum soll den zukünftigen Fachhochschul-Studenten Berufserfahrung ermöglichen, ohne dass dem Betrieb daraus eine eigentliche Ausbildungsverantwortung erwächst, wie es die derzeitige Regelung vorschreibt. Die Ausbildung an der Fachhochschule vollzieht sich in drei Jahren mit einem Stundentotal von rund 3600 Lektionen. Die Schwerpunkte sind Allgemeinbildung mit Kommunikation und Informatik, Fachausbildung sowie Führungsausbildung. Ein I+D-Spezialist ist befähigt, anspruchsvolle Aufgaben in allen Bereichen einer I+D-Stelle zu übernehmen und Leitungsfunktionen auszuüben.

Die Einhaltung des knapp bemessenen Zeitplans vorausgesetzt, werden Berufslehre wie Fachhochschul-Ausbildung im Herbst 1998 beginnen. Die bisherigen Diplomkurse BBS finden von Januar 1998 bis März 1999 ein letztes Mal statt, während das Vorpraktikum für den Fachhochschulbereich schon im Herbst 1997 einsetzt.

Offene Fragen

Die neuen Ausbildungsstrukturen sind geschaffen, doch manche Fragen bleiben offen. Vor allem für das Nachdiplomstudium I+D, der dritten Ausbildungsstufe, gibt es noch kein Curriculum. Diese Ausbildung des höheren Kaders mit Schwerpunkten Finanzverwaltung, Personalführung, Planung und Organisationstätigkeit führt Berufsspezialisten und Wissenschaftler zusammen. Für Hochschulabsolventen wird deshalb die berufliche Erfahrung von mindestens einem Jahr in einem I+D-Betrieb verlangt, um den unterschiedlichen Kenntnisstand beider Gruppen etwas auszugleichen. Die Studiendauer erstreckt sich bei Vollzeitstudium auf mindestens ein Jahr (1'100 Lektionen) oder bei berufsbegleitendem Studium (800 Lektionen) auf eineinhalb bis zwei Jahre. Bis zum Abschluss des ersten Fachhochschul-Studiengangs im Herbst 2001 muss spätestens auch das Nachdiplomstudium genau geregelt sein. Bis dahin werden die bisherigen Nachdiplomstudien weiterlaufen.

Die Fachhochschulen werden in naher Zukunft zumindest die Ausbildung mittlerer Kader übernehmen. Auch für die Betreuung der Weiterbildung bishin zur angewandten Forschung stehen sie im Gespräch. Einzelheiten dazu sind noch nicht bekannt.

Zu den offenen Fragen gehört auch die Anerkennung der bisherigen BBS-Diplome. Verschiedene Modelle werden diskutiert, ohne entschieden worden zu sein. Da die bisherige Ausbildung nicht das Niveau eines FH-Abschlusses hat, müssen zusätzliche Kurse oder Berufspraxis hinzukommen, um den gleichen Status zu erreichen.

Die Ausbildung befindet sich weiterhin im Umbruch, für eine Vielzahl offener Fragen und Probleme müssen noch Lösungen erarbeitet werden. Doch mit erhöhter Flexibilität aller Beteiligten lassen sich die verbleibenden Hürden der neuen Ausbildung leichter nehmen, damit die Reformen wieder in den steten Wandel der Ausbildung übergehen können.

Literatur:

Verband der Bibliotheken und der Bibliothekarinnen/Bibliothekare der Schweiz (BBS):
- Berufe der Bibliotheken und Informationszentren, Bern 1994
- Berufsbild Wissenschaftliche Bibliothekarin - Wissenschaftlicher Bibliothekar, Bern 1997



zum nächsten Beitrag - l'article suivant
zurück zum Inhaltsverzeichnis - retour à l'index