Kalender sind eine besonders anschauliche Quelle der Alltags- und Sozialgeschichte seit der Frühen Neuzeit. Entstanden bereits um 1500, erfuhr die Textgattung großen Aufschwung in der Epoche der Aufklärung – steht der Kalender doch im Kontext der Bildung breiter Bevölkerungsschichten. Im Jahresrhythmus publiziert, verband der Kalender seine ursprüngliche kalendarische Funktion mit einer Vielfalt interessanter und nützlicher Informationen und kleinen Geschichten. Die Textgattung enthielt daher nicht nur ein Kalendarium mit astronomischen Daten, Fest- und Markttagen sowie Messeterminen. Attraktiv für jedermann war der Kalender durch praktische Tipps für die Land- und Hauswirtschaft, durch Wettervorhersagen, Gesundheitsratschläge, Ernährungsempfehlungen, Verhaltensmaßregeln zur Verhütung von Unglücksfällen, durch moralische und erbauliche Geschichten sowie Anekdoten, sogar Mord- und Schauergeschichten, ferner Posttarife, Tabellen für Maße und Gewichte und Zinstabellen, schließlich Hinweise für den richtigen Zeitpunkt zum Haare- und Nägelschneiden – kurzum: alles, was bis heute ein populäres Massenmedium ausmacht. Daher verwundert nicht, dass der Kalender ein äußerst erfolgreiches und langlebiges Geschäftsmodell wurde. Auch wenn einige Titel nur wenige Jahrgänge florierten, bestehen manche bis heute fort, wie der berühmte „Lahrer Hinkende Bote“. Dieser brachte es auf bisher 223 Lebensjahre, erreichte in seiner Blütezeit um 1870 annähernd eine Millionenauflage und ist ein herausragendes Beispiel der besonderen Blüte der Textgattung des Kalenders am Oberrhein.
Oftmals zerlesen und zerschlissen, wurden die Hefte nach Gebrauch weggeworfen. Aus diesem Grund sind sie oftmals nur unikal, lückenhaft und hochgradig verstreut überliefert. In der Regel auf holzschliffhaltigem Papier gedruckt, sind sie eine konservatorische Herausforderung und können vielfach nicht mehr zur Nutzung im Original angeboten werden.
Die digitale Sicherung und virtuelle Zusammenführung dieses nicht nur regionalgeschichtlich bedeutenden Kulturgutes ist eine wichtige Aufgabe der bestandshaltenden Gedächtnisinstitutionen.
Aufgrund der Bedeutung der oberrheinischen Kalender und Almanache des 18. bis 20. Jahrhunderts als frühes Massenmedium und kulturgeschichtliche Quelle ersten Ranges für das Alltagsleben im Südwesten Deutschlands, aber auch in Frankreich, haben die Universitätsbibliothek und die Badische Landesbibliothek ein Projekt entwickelt, in dem sie ihren sich ergänzenden Bestand erschließen, digitalisieren und virtuell zusammenführen. Die Möglichkeit einer Volltextsuche bietet eine hohe Anschlussfähigkeit des Quellencorpus für kulturwissenschaftliche Fragestellungen historischer und philologischer Fachdisziplinen.
Beide Projektpartnerinnen haben bereits in der Vergangenheit ausgewählte Titel ihres Kalender- und Almanach-Bestandes digital bereitgestellt: die Badische Landesbibliothek ein umfangreiches Corpus ihrer Kalender aus dem Umfeld des Lahrer Hinkenden Boten, die Universitätsbibliothek den Freiburger Boten. Ein nützlicher und unterhaltender Haus- und Wirthschaftskalender (1831–1862), einen der „klassischen“ Kalender des Freiburger Verlegers Friedrich Wagner. Das gemeinsame Projekt wird insgesamt etwa 250 Titel für Forschung, Lehre und Studium bereitstellen.
Neben Beständen aus den Sammlungen der Universitätsbibliothek und der Badischen Landesbibliothek werden auch Titel aus dem Stadtarchiv Freiburg und der Universitätsbibliothek Heidelberg erschlossen und digitalisiert.
Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg, Stiftung Kulturgut Baden-Württemberg
Badische Landesbibliothek Karlsruhe
01.01.2024–31.12.2024